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Vor Nackedeis wird gewarnt

Vor Nackedeis wird gewarnt

Titel: Vor Nackedeis wird gewarnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Charles
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sagte Andy. Er verdrückte sich hinter der Kanzel und war nicht mehr zu sehen. In weniger als einer halben Minute erschien er oben auf der Kanzel, um als neuer Prediger seine Gemeinde mit frommem Gesichtsausdruck zu betrachten. Mit einem gewinnenden Lächeln meinte er: »Ich habe dich sehr lieb, Daddy.«
    Bernie brüllte: »Komm sofort da runter.«
    Der kleine Priester stieg mit einem Achselzucken hinunter und tauchte wieder am Hochaltar auf. Er streckte eine gierige Hand bei dem Versuch aus, die Altardecke zu erreichen, aber eine weitaus größere Hand ergriff Andy beim Schopf. Und schmachvoll wurde er zum Ausgang hingestoßen.
    Er protestierte. »Du hast mir weh getan.« Dann brachte er es noch fertig, nach je einem Liederbuch für alte und neue Kirchengesänge zu greifen, während er an dem Verkaufsregal vorbeikam.
    Schweratmend stellte Bernie die beiden Gesangbücher wieder an ihren Platz zurück.
    Bernie setzte seinen Sohn am Treppenabsatz zum Portal ab und sah ihn streng an. »Geh zu deiner Mutter«, knurrte er.
    Andy holte tief Atem und öffnete seinen Mund, um erneut zu protestieren. Dann überlegte er sich das noch einmal und sagte: »’n Ordnung, Daddy.« Auf seinen dicken, kleinen Beinen trollte er sich davon.
    Bernie schnaubte wütend und kehrte zu den Reliefs zurück. Irgendwie war er jetzt nicht mehr ganz bei der Sache.
    Andy tat sein Bestes, denn zehn Sekunden lang spielte er in dem hohen Gras draußen vor der Mauer. Aber die Anziehungskraft der Kirche übermannte ihn, und leise schlich er sich wieder in den dämmerigen Innenraum. Er schielte um eine Ecke und sah, daß sein Vater offensichtlich wieder Gebete aufsagte.
    Alles war in Ordnung.
    »Ha«, sagte er und strahlte.
    Aus einer Wandöffnung hing ein langes, weißes Seil herunter und baumelte einladend vor seiner Nase.
    »Bang«, machte Andy, glücklich über diese Entdeckung.
    Er griff nach dem Seil, um das Ganze einmal auszuprobieren. Es war rauh, und er mochte das Gefühl in seiner Hand. Er sammelte seine ganzen Kräfte für den Sprung und spannte seine Muskeln.
    »Nein«, brüllte eine Stimme hinter ihm. Er sprang, so, als sei er gebissen worden.
    »Bang«, machte er beiläufig.
    »Das ist doch keine Schaukel«, rief Bernie, »und, mein Sohn, wenn du das Seil zu fassen gekriegt hättest, dann, da darfst du sicher sein, wären die entsetzlichsten Dinge passiert.«
    Bernie entsetzte sich bei der Vorstellung, was geschehen wäre, wenn die Glocken plötzlich zur falschen Stunde des Tages geläutet hätten.
    »Geh jetzt endlich zu deiner Mutter«, sagte Bernie, »und wenn du dich noch einmal sehen läßt, dann zieh’ ich dir das Fell über die Ohren.«
    Andy war nicht dumm. Schon am Vormittag hatte seine Mutter ihn ordentlich vermöbelt, und ihre Handschrift war nicht von schlechten Eltern. Es war zu erwarten, daß die Handschrift seines Vaters noch um einige Grade deutlicher sein würde.
    Folgsam trabte er zurück.
    Wutbebend folgte Bernie dem Kleinen mit den Blicken. Er drehte sich um und stieg erneut zum Kirchenportal hoch, als sein linker Fuß ausrutschte.
    »Verd...«, sagte er und ruderte mit seinen Armen in der Luft. Eine seiner beiden Hände berührte einen Gegenstand, der die Rettung sein konnte, und wie ein Ertrinkender ergriff Bernie das Glockenseil.
    In diesem Augenblick wurde ihm klar, was er ergriffen hatte, aber es war bereits zu spät. Hoch über ihm, im Glockenturm, schwangen die beiden herrlich gegossenen Glocken gegeneinander aus, und während sie wieder zurückschwangen, dröhnten die Klöppel gegen die Form.
    Plötzlich war in der stillen Kirche die Hölle los.
    Laut und fröhlich sangen die Glocken der Abtei ein Bim Bam, bong, bong, bong.
    »O mein Gott«, stöhnte Bernie.
    Direkt vor ihm tanzte das Glockenseil auf und ab, und die Glocken sangen ungestört ihr Lied, ohne auch nur für einen Augenblick einzuhalten.
    Jetzt verlor Bernie den Kopf. Wild riß er an dem tanzenden Seil. Ohne eine weitere Anregung wären die Glocken schließlich von selbst zum Stillstand gekommen. Aber mit einem übergeschnappten Mann am unteren Ende des Seils wurden sie ermutigt, und sie gaben auch wirklich ihr Bestes.
    Mit drei kurzen Zügen ließ Bernie dann im Einklang mit den uralten Gesetzen des Glockenläutens das Seil los.
    »Ich glaube, es ist besser, wir kehren nach Hause zurück«, meinte er zu Adele.
    Erstaunt fragte sie: »Warum?«
    »Es wird langsam Zeit«, sagte er und führte die kleine Gruppe zum Rückzug an.
    »Die Glocken läuten.

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