Vor uns die Nacht
Stalking nennen.«
»Ja, verflucht, weil ich Sie dabeihaben möchte und weil ich weiß, dass Sie dabei sein wollen.« Er atmet tief durch und ich kann hören, wie er einen großen Schluck Kaffee nimmt. »Der Platz ist immer noch frei. Sagen Sie mir ins Gesicht, dass Sie ihn nicht wollen. Dann akzeptiere ich es.«
»Gut. Von mir aus. Ich muss mich sowieso noch exmatrikulieren«, erwidere ich kühl. »Nächsten Donnerstag?«
»Sie kommen zu mir, bevor Sie sich exmatrikulieren, denn Sie werden sich nicht exmatrikulieren, verstanden? Davor. Sie haben das Zeug zum weiblichen Indiana Jones, Ronia!«
»Den weiblichen Indiana Jones gibt es bereits.« Ich lächle ohne jede Freude. »Sie heißt Lara Croft und hat Medipacks am ihrem Gürtel, für den Fall, dass sie versehentlich ersäuft oder vom Felsen stürzt. Das gilt für mich leider nicht. Schönen Abend und bis Donnerstag.«
Ich lege auf, bevor er weiter auf mich einreden kann, doch seine Beharrlichkeit hat mich inspiriert. Kai Schuster hat recht. Manche Dinge muss man dem anderen ins Gesicht sagen. Und es wird leichter sein, Jan ins Gesicht zu sagen, was ich ihm mitteilen will, als Kai Schuster klarzumachen, dass ich mein Studium hinschmeißen werde. Ich war in den vergangenen Wochen sowieso kaum noch an der Universität, und wenn, saß ich träumend und grübelnd in der Bibliothek oder stopfte in der Cafeteria Nudeln in mich hinein.
Das, was ich jetzt vorhabe, ist eine gute Übung, und wenn ich es erst hinter mich gebracht habe, werde ich mich besser und befreiter fühlen. Länger warten kann ich nicht; die Gefahr ist zu hoch, dass ich eine weitere Nacht von ihm träume – Träume, die voller Nähe, Leben und Zärtlichkeit sind und damit das Gegenteil meiner Zukunft. Es sind Nachwehen, mehr nicht.
Vor allem aber darf er niemals erfahren, was los ist. Er soll mich als begehrenswert, gesund und unverwundbar in Erinnerung behalten, nicht als eine Kranke, die von nun an dem Zerfall preisgegeben ist. Ich möchte weder Mitleid noch, dass er sich ein paar tröstende Sprüche abringt, die nicht von Herzen kommen. Und ich möchte, dass es als meine ureigene Entscheidung in die Fahnen des Schicksals geschrieben wird.
Aber gibt es überhaupt noch eine Trennung von der Krankheit und mir? Wir sind eins. Sie entscheidet über alles, was ich tue und nicht tue. Doch es genügt, wenn ich das weiß. Er darf es nicht wissen.
Auf dem Weg in die Fischergasse achte ich auf jeden Schritt, meinen Atem, die Anspannung und Entspannung in meinen Muskeln. Bin ich stabil? Oder nähert sich ein neuer Schub? Bei ihm soll er mich nicht erreichen. Ich möchte wirken wie eine entschiedene, selbstbewusste Frau, die weiß, was sie tut und warum sie es tut. Er muss es akzeptieren. Ich habe mir meine Sätze und Argumente viele Male zurechtgelegt und ausgesprochen, Zeit hatte ich genügend. Ich muss sie nur noch auswendig herunterbeten. Das werde ich hinkriegen. Bisher hatte ich in jeder mündlichen Prüfung eine Eins. Es wird ein Kinderspiel sein.
»Da bist du ja.« Er hat Schatten unter den Augen und den Abdruck einer Kissennaht auf der rechten Wange. Habe ich ihn geweckt? Er scheint nicht viel geschlafen zu haben in den vergangenen Tagen. Oder nimmt er wieder mehr Drogen? Doch die Wohnung ist ordentlich wie immer, allerdings ohne Kerzenlicht. Zum ersten Mal bin ich tagsüber hier. Jetzt erst sehe ich, dass hinter dem Küchenfenster ein dichter, verwunschener Garten liegt, ein sonnengeflecktes Meer aus Grün. »Ist was passiert? Alles in Ordnung mit dir?«
»Ich muss mit dir reden.« Weil meine Beine zu zittern beginnen, gehe ich voraus ins Wohnzimmer. Doch ich lehne mich an die Wand, statt mich aufs Sofa zu setzen. Im Flur kann ich nicht bleiben, es ist das riesige Foto von ihm, das mich aus dem Konzept bringt – der Anblick seiner nackten Arme, die mich so oft umfangen und durch diesen Flur geschoben haben. Kein einziges Mal haben wir auf dem Sofa miteinander geschlafen. Er wollte immer rüber auf sein großes, weiches Bett. Nie wieder werde ich dort liegen. Wenn ich nur eine Nacht bei ihm hätte bleiben können … Nur eine Nacht. Dann wäre mein Leben reicher gewesen.
»Okay.« Auch er bleibt stehen, ein paar Meter von mir entfernt am Fenster, sodass sein Gesicht sich im Gegenlicht befindet und ich seine Mimik nicht erkennen kann. »Was ist denn los?«
»Mir geht’s nicht gut.« Falscher Text! Falscher Text, das wollte ich nicht sagen. Keine Befindlichkeiten, nur Sachinformationen. Jan
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