Vor uns die Nacht
nicht aufstehen und laufen? Ronia?«
»Nein«, flüstere ich matt.
»Scheiße.« Jonas flucht fast nie, aber dieses »Scheiße« kommt mitten aus seinem Herzen. »Dann trage ich dich runter.«
Ich zucke zusammen, als seine Hände um meine Taille fassen und er mich hochstemmt, denn der Nebel wird immer undurchdringlicher. Das ändert sich auch dann nicht, als wir im Auto sitzen; allein die Straßenlampen und Scheinwerfer der wenigen anderen Wagen dringen wie schwache Reflexionen der echten Welt durch meine Finsternis.
Wie Jonas fragen die Ärzte in der Notaufnahme zuerst nach Alkohol und Drogen. Ob ich vielleicht in einer Kneipe war und ein Getränk zu mir genommen habe? Nein, auch keine K.-o.-Tropfen, ich weiß es genau. Ich bin nur gelaufen, mehr habe ich heute nicht getan. Das mit dem Training wiederhole ich beharrlich, denn es ist das Einzige, was ich in meinem Leben noch aufrichtig tue. Ich laufe.
Als ich endlich in einem frisch bezogenen Bett liege, testen sie erneut meine Reflexe, während Jonas ununterbrochen in meiner Nähe bleibt und sich als mein Bruder ausgibt, damit sie ihn nicht wegschicken können. Hatte ich das früher nicht immer gewollt? Dass er mein Bruder ist?
»Spüren Sie das?« Ich nicke nur noch. Ja, ich spüre die Hand der Stationsärztin an meiner Fußsohle. Natürlich. Aber sobald ich versuche, mein Bein dagegenzustemmen, übernimmt etwas anderes die Kontrolle, kribbelnd und kalt. Erschöpft drehe ich mich auf die rechte Seite und ziehe meine Knie mit den Händen hinterher, jetzt fühle ich meinen Unterleib wieder, in dem schon seit Tagen ein trauriger, dunkler Schmerz haust. Doch ich fühle ihn. Morgen wird wieder alles so sein wie vorher. Es muss.
»Wir können nichts Konkretes sagen, wir müssen die Untersuchungen abwarten«, höre ich die Stimme der Ärztin gedämpft zu Jonas sagen. »Sieht nach neurologischen Ausfallserscheinungen aus. Das kann alles bedeuten und nichts. Deshalb wäre jede voreilige Diagnose falsch. Bitte verstehen Sie das.«
Er versteht es, während ich verstehe, dass ich bleiben muss, über Nacht und vermutlich auch die nächsten Tage. Da sie nicht wissen, was mir fehlt, können sie mir kein Schlafmittel geben, nur Baldrian. Dankbar schlucke ich zwei der kleinen braunen Pillchen, von deren Drogeriemarktversion ich heute Nachmittag schon vier genommen habe.
Ich schlafe die ganze Nacht nicht. Ich brauche das Morgenlicht, um zu wissen, dass ich es mir nicht einrede – aber das tue ich nicht, wie ich bei der ersten Helligkeit des Tages feststelle. Die Nebelschlieren haben sich zerstreut. Ich sehe wieder, unschärfer als vorher, das linke Auge kann Details nur verschwommen erkennen. Alles in allem jedoch nehme ich meine Umwelt wieder wahr. Vor dem Fenster geht die Sonne auf und auf dem Flur höre ich Wagen rollen, wahrscheinlich das Frühstück. Gleich werden sie mein Zimmer stürmen. Prüfend sehe ich mich um. Ich liege alleine, der Privatversicherung meines Vaters sei Dank. Jonas ist in der Ecke am Fenster in seinem Besuchersessel eingeschlafen.
»Großer Zeh«, denke ich so deutlich und bewusst, wie ich kann. Da – ich habe wieder Verbindung, er bewegt sich, hoch, runter, nach rechts und nach links. Außerdem kann ich meine Knie beugen und die Beine heben. Auch das Kribbeln hat so weit nachgelassen, dass ich nicht mehr an Ameisen, sondern nur noch an eine feine Gänsehaut denken muss. Gänsehaut ist etwas Normales, etwas Gutes. Ja, es wird alles gut werden, nachher schon werden sie mich entlassen und ich kann mich zu Hause erholen. Alles wird gut. Jetzt erlaube ich mir, der Müdigkeit nachzugeben und einzuschlummern.
Doch als ich aufwache, stehen zwei Ärzte und meine Eltern am Bett, Vater besorgt, Mama verweint, und ihre Blicke sagen mir, dass ich nur geträumt habe. Nichts ist gut. Sie wollen ihre Untersuchungen durchziehen. Obwohl ich wieder sehen und mich bewegen kann, bleibt der Nebel. Er ist in meinen Kopf und meinen Bauch gekrochen. Alles ist gepolstert und weich, nichts dringt zu mir hindurch, selbst die spitzen Nadeln nicht, die in meine Venen stechen und mir immer wieder Blut abzapfen, und auch nicht die Saugnäpfe an meiner Brust und an meinem Schädel. Geduldig beantworte ich die Fragen, die sich bei jedem neuen Arzt wiederholen, doch nun haben auch meine Blutwerte bewiesen, dass ich die Wahrheit gesagt habe. Keine Drogen, keine schweren Medikamente.
Es ist etwas anderes.
Mama bringt mir Kleider und etwas zum Lesen, Jonas meinen Schlafanzug,
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