Vor uns die Nacht
anzublicken. »Mein Leben, das ich jetzt führe, ist zu Ende.«
Ich sehe Jans halb geschlossene Augen vor mir, wie sie mich während unserer Küsse und Umarmungen oft anblickten, so fern und nah zugleich, und weiß, was ich zu tun habe. Sicherer war ich mir einer Sache nie und es fühlt sich beinahe angenehm an. Meine Entscheidung ist klar, kalt und einfach. Ich muss an ein Seidentuch denken, das auf die Klinge eines Samuraischwerts gleitet und lautlos zerteilt wird. Genauso ist es. Es gibt kein Zusammen mehr, es gab vermutlich niemals ein Zusammen. Wir waren immer Getrennte. Die Krankheit hat mir den Weg gezeigt, dies zu vervollkommnen, und es wird mir leichtfallen. Dieses Mal bin ich diejenige, die geht, und ich habe den besten Grund der Welt dazu.
»Gut.« Wankend stehe ich auf. »Dann lasse ich mich jetzt also nach Hause fahren und warte … warte auf den nächsten Anfall?«
Dr. Siegmund nickt. »Führen Sie am besten Tagebuch über Ihr körperliches Befinden, aber bitte im Vertrauen, nicht in Angst. Sie sind untergewichtig und haben übermäßig Sport getrieben, dazu dauerhaft zu wenig zu sich genommen. Schauen Sie, dass Sie sich aufbauen und an Ihrer Stabilität arbeiten – auch an Ihrer seelischen Stabilität. Sollten wieder akute Ausfallserscheinungen auftreten, kommen Sie so schnell wie möglich zu uns. In Ordnung? Ich habe hier eine Infobroschüre mit den typischen und untypischeren Akutsymptomen. Lesen Sie es sich in Ruhe durch und bei Fragen rufen Sie an. Sie können uralt werden, Frau Leonhard. Alles ist möglich. Versuchen Sie daran zu glauben.«
Nein, das kann ich nicht. Ich konnte noch nie an Wunder glauben; und in dieser Sache wird es mir auf keinen Fall gelingen. Lieber sehe ich der Wahrheit ins Gesicht, als mir etwas einzureden, das nicht eintreffen wird.
Schon auf dem Weg ins Foyer werfe ich die Broschüre in den nächsten Papierkorb. Ich brauche sie nicht. Es passt alles zusammen: meine unbestimmte Furcht vor dem August, der größenwahnsinnige Glaube, die lockere, unverbindliche Affäre von Jan und mir könne funktionieren, das Aus mit Johanna, der Streit mit meinen Eltern, der Traum vom Sensenmann neben dem Bett, die angreifenden Dämonen. Alles Vorboten. Nur habe ich es nicht begriffen.
Jetzt aber weiß ich es. Ich werde sterben. Langsam, in Raten. Mein Körper wird zerfallen und er wird diesen unbarmherzigen Prozess als Überraschungsparty inszenieren. Alle ein bis zwei Monate ein neuer Schockmoment, bis die Krankheit mich zu ihrer Sklavin gemacht hat und ich ihr wehrlos ausgeliefert bin.
Nur mein Herz – das wird mir gehören. Und ich werde es schützen. Jetzt.
Es ist höchste Zeit.
Das Blitzen von Stahl
R onia, ich akzeptiere das nicht! Nicht am Telefon!«
»Aber es ist doch sowieso egal! Es wird gar nicht gehen. Ich habe meine Prüfungen geschwänzt und jetzt …«
»Sie haben nicht geschwänzt.« Überrumpelt verstumme ich. Anscheinend weiß Kai Schuster mehr, als ich dachte. Das wundert mich zwar, macht es aber auch einfacher. »Ihre Eltern haben uns mitgeteilt, dass Sie im Krankenhaus waren, und keine Universität in diesem Land wird einen Klinikaufenthalt als Schwänzen betrachten. Selbstverständlich können Sie die Prüfungen wiederholen, das ist kein Problem!«
»Nein, das kann ich nicht. Weil es keinen Sinn ergibt. Prüfungen sind überflüssig, wenn man nicht mehr studieren will.« Ich schlucke heftig, um glauben zu können, was ich da sage, denn obwohl ich mich mit sämtlichen Zukunftsplänen überfordert fühle, weil sich nichts mehr planen lässt in meinem Leben, tut der Gedanke weh. »Ich werde nicht als Archäologin arbeiten können, nicht mit dem, was ich habe.«
»Sie sind zu Hause. Oder? Also sind Sie nicht in Lebensgefahr. Haben Sie einen Gips oder eine Operationsnarbe? Etwas Akutes?« Kai Schuster dämpft seine Lautstärke, um nicht zu fordernd zu klingen, doch er kann kaum verhehlen, dass er nicht willens ist, allzu schnell die Flinte ins Korn zu werfen. Ich hätte besser daran getan, auch beim sechsten Klingeln nicht ans Telefon zu gehen. »Werden Sie im nächsten halben Jahr sterben?«
»Nein. Wohl nicht. Aber ich …«
»Dann können Sie studieren. Und Ronia, ich möchte das nicht am Telefon ausdiskutieren und schon gar nicht möchte ich, dass Sie diese Chance mit einem Anruf über Bord werfen.«
»Ich habe nicht angerufen«, erinnere ich ihn milde. »Sie haben mich angerufen. Sechs Mal übrigens. Und das war nur heute. Andere würden das
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