Vor uns die Nacht
ich mich auf und weiche zurück.
»Nein. Sonst hört das nie auf. Bitte komm mir nicht zu nahe.«
Jan gibt auf. Er lässt die Hand sinken und tritt zurück ans Fenster, wo die Sonne ihn mit einem orangeschimmernden Lichtkranz umgibt. Ich werde seine offenen Augen nicht mehr sehen. Ich kann mich nur noch daran erinnern, wie an ein fernes, flüchtiges Wunder. Aber ich glaube nicht an Wunder.
Im Flur bleibe ich noch einmal stehen. So soll es nicht enden.
»Jan.« Nicht ihn blicke ich an, sondern das Abbild an der Wand, jenen Jan, den ich an Weihnachten kennengelernt habe – doch ich kann mich nicht mehr an mich selbst erinnern. Wer war ich gewesen? »Du warst sehr zärtlich mit mir und ich werde das alles niemals vergessen, ich schwöre es, aber …«
»Halt. Das ›Aber‹ will ich nicht hören. Es reicht. Lass es nur einmal so stehen. Lass es, bitte. Ich wünsch dir ein schönes Leben, Ronia. Stay gold.«
Er nimmt es hin. Ist es denn so einfach, sich zu trennen? Keine Gegenwehr? Wie habe ich bei den anderen gebettelt und verhandelt, Probephasen herausgeschlagen, versucht, Versöhnungen zu inszenieren – und jetzt mache ich zum ersten Mal selbst Schluss und nichts passiert? Doch er sagt kein Wort mehr. Es ist, als habe er sich in Luft aufgelöst.
Sobald ich das Haus und die Fischergasse hinter mir gelassen habe, sinke ich inmitten der Menschen an eine Schaufensterscheibe und presse die Hände gegen mein Gesicht. Ich kann nicht glauben, was ich getan habe. Doch es war richtig. Dieses Mal habe ich die Kontrolle behalten und die Dinge koordiniert. So, wie ich es am Anfang beschlossen hatte. Ziel erreicht. Ich habe es begonnen und ich habe es beendet. Niemand hat über mich bestimmt.
Es gab keine andere Möglichkeit, es war längst überfällig und ich hatte eine Heidenangst vor einem Aus – nun habe ich es selbst eingeleitet. Es war nicht nur richtig, sondern auch vernünftig und klug. Jeder wird es gutheißen. Wenn der erste Schock erst einmal verflogen ist, werde ich stolz auf mich sein.
Doch der Trennungsschmerz hat sich verändert. Er ist nicht so bodenlos, wie wenn mit mir Schluss gemacht wurde. Er krallt und beißt, als wolle er mein Inneres Stück für Stück vernichten. Weinen kann ich nicht.
Zu Hause sitze ich tatenlos in meinem Zimmer auf der Bettkante und frage mich, ob man an so etwas sterben kann. Vielleicht wäre es der bessere, ehrlichere Tod. Prüfend lege ich meine rechte Hand auf mein Herz. Was nur sagt es mir? Ich habe es in den vergangenen Wochen ununterbrochen verwundet und verwunden lassen, es muss verstehen, warum ich das getan habe, und mir danken – es muss aufhören wehzutun. Sehnsucht darf sein, auch Wehmut und Melancholie, doch diesen Schmerz kenne ich nicht. Das Herz ruft mir in seiner Qual etwas zu, aber ich kann seine Sprache nicht verstehen. Wir kennen uns nicht mehr.
War das womöglich doch noch nicht der letzte Schritt? Und Jan nur eine von den Prüfungen, die Vater erwähnt hat? Wie ein Weckruf, der mir zusammen mit der Krankheit deutlich macht, wo mein Platz ist – nämlich doch bei Jonas? Ich vermisse sein Vertrauen und seine liebevolle Rücksicht immer mehr. So fern wie in den vergangenen Wochen waren wir uns nie gewesen. Und es tut weh. Zwischen uns hatte doch zuvor kein Blatt Papier gepasst. Musste er erst auf Distanz gehen und Jan mich in den erotischen Irrsinn treiben, damit ich erkenne, wie sehr er zu mir gehört? War ich all die Jahre zu verblendet?
Ich habe nie um Jonas buhlen müssen. Aber er gehörte zu mir. Wenn diese Geschichte mit Jan und die Diagnose mir sagen wollen, was wichtig im Leben ist und worauf es ankommt, dann sollte ich das anerkennen und befolgen, solange ich es noch kann. Jonas’ Distanz könnte bezwecken, mich wachzurütteln. Das Schicksal erlaubt nicht, es fordert. »Doch, genau so ist das«, spreche ich meine Schlussfolgerungen halblaut aus. »Ich hab es nur nicht gesehen.«
Ist das die Gnade, über die ich vor Kurzem noch nachdachte? Man bekommt sie nicht einfach so. Man muss dafür leiden. Wie Hiob. Den erwähnt Vater in mindestens jeder dritten Predigt, mit ihm kenne ich mich aus. Jetzt erst, da ich todkrank bin, kann ich sehen, wohin mein Weg mich führt. Es wird nicht alles gut werden, aber ich werde die wahre Liebe erfahren. Keine heimlichen Treffen mit leidenschaftlichem Sex ohne viele Worte, sondern ein aufrichtiges Miteinander, in dem die seelische Verbundenheit zählt und nicht das Begehren. Das mit der Erotik hört doch
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