Vor uns die Nacht
Süßigkeiten, meinen MP 3 -Player und mein Handy. Doch ich rühre nichts davon an. Mein Leben macht eine Pause und so mache auch ich Pause, bis sich das Missverständnis geklärt hat und sie endlich schwarz auf weiß haben, dass ich gesund bin.
Ich spreche kaum und empfange keinen Besuch außer dem von meinen Eltern und Jonas. Das, was sie und die Ärzte sagen, verhallt sofort wieder. Es tangiert mich nicht.
»Ich bin ja da, von mir aus schlafe ich jede Nacht in diesem Stuhl.«
»Kind, wir sind bei dir. Wir lieben dich, das weißt du. Auch im Streit, auch in unseren Konflikten. Unsere Tür steht dir offen.«
»Gott schickt uns Prüfungen, das ist nur eine davon und du wirst sie bestehen, wie alle anderen auch.«
»Wir müssen erst weitere Untersuchungen abwarten, bitte haben Sie Verständnis. Morgen wissen wir mehr.«
Ich sage nichts.
Der Morgen erwacht dunstig und kühl, doch die Sonne kämpft sich schon bald in gleißenden Strahlen zur Erde hinab. Wie erfroren stehe ich am offenen Fenster und schaue in die sattgrünen Kronen der Bäume, ohne etwas zu sehen. Draußen ist Sommer, in seiner höchsten, süßesten Blüte, doch es ist nicht mehr mein Sommer. August – dieser Monat war mir schon immer unheimlich gewesen, mein ganzes Leben lang. In den ersten zehn Tagen wurde ich seit meiner Pubertät jedes Jahr aufs Neue von einer unerklärlichen Schlaflosigkeit und Bauchschmerzen geplagt. Jetzt weiß ich, warum. Es waren Vorahnungen gewesen. Der Kalender zeigt den achten August.
»Kommen Sie bitte, Frau Leonhard? Dr. Siegmund erwartet Sie zum abschließenden Diagnosebericht.«
Jonas ist wieder auf dem Revier, ich muss es alleine durchstehen – und ich will es auch. Es geht niemanden etwas an. Was werde ich hören? Die erleichternde Botschaft, dass nichts festgestellt werden konnte und ich meinen Alltag wieder aufnehmen soll, aber in Zukunft bitte mehr trinken und weniger trainieren? Welcher Alltag um Himmels willen – weinen, wachen, grübeln? Oder höre ich jetzt etwas, das alles Vertraute auf einen Schlag in den ewigen Schatten rücken wird, bis er mich verschlingt?
Es fällt mir schwer, mich auf die Ausführungen des Arztes zu konzentrieren. Das Blau seiner Augen irritiert mich zutiefst. Sie sind so hell und klar und gleichzeitig furchtbar müde – genau wie mein Herz sich fühlt.
»… sodass wir zu dem Schluss gekommen sind, dass Ihr Anfall möglicherweise ein erster Schub von multipler Sklerose war. Frau Leonhard? Hören Sie mir zu?«
»Was haben Sie gesagt? Ich habe multiple Sklerose?« Ich kann es nur hauchen, meine Stimme versagt sich dieser Diagnose. Es ist, als ob meine Welt auf einen Schlag ihre Musik und ihre Farben verloren hat. Sie ist schwarz-weiß und still geworden. Nichts darin kann sich noch regen, nichts fliegen und seine Form verändern. Ich bin gefangen.
»Nein. Nein, ich habe lediglich den Verdacht geäußert, dass Ihre neurologischen Ausfälle darauf beruhen könnten . Könnten, Frau Leonhard!«
»Und warum wissen Sie es nicht genauer?«, frage ich flüsternd, während mir dicke, schwere Tränen über die Wangen rinnen und auf meine Oberschenkel tropfen.
»Der mögliche Schub war in seinen Symptomen diffus und eine klare Diagnosestellung ist bei dieser Krankheit nicht ganz einfach. Wir müssen erst einen eventuellen zweiten Schub abwarten, damit sich der Verdacht erhärtet – oder auch nicht.«
»Wir?« Nun habe ich meine Stimme wiedergefunden. » Wir müssen es? Nein, ich muss es, sonst niemand! Ich muss das durchmachen, ganz alleine, nicht Sie!« Doch meine Wut verpufft sofort. Weinend reibe ich meine Augen, die wieder sehen können, noch tun sie das, aber wie lange? Wann werde ich blind sein? Wann im Rollstuhl sitzen? Wann nicht mehr in der Lage sein, meinem Beruf nachzugehen? Im Rollstuhl lassen sich keine Ausgrabungen machen. Das geht nicht. Und Jan, oh mein Gott, Jan.
»Gehen Sie vom Besten aus, Frau Leonhard, nicht vom Schlimmsten. Es muss sich nicht bewahrheiten. Es kann, die Verdachtsmomente sind da, keine Frage, aber es muss nicht.« Er reicht mir ein dickes Taschentuch. Was hatte ich vor Kurzem geträumt? Der Tod stand neben meinem Bett? Es war die Wahrheit gewesen.
»Das ist das Ende.«
»Nein, das ist es nicht.« Tröstend umfasst Dr. Siegmund meine Hand, die zitternd das Taschentuch zerknüllt. »Selbst wenn es Ihnen in diesem Moment so vorkommen mag: Ihr Leben ist nicht zu Ende!«
»Doch, das ist es«, widerspreche ich ihm tonlos, ohne ihn
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