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Vor uns die Nacht

Vor uns die Nacht

Titel: Vor uns die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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isolierten Altbaufensterrahmen zieht es, sodass ich mich wieder unter mein Plumeau schiebe, bis es auch meine Ohren bedeckt. Mit der rechten Hand greife ich nach dem Feuerzeug und zünde die Stumpenkerze auf meinem Nachttisch an. Seit dem Aus mit Lukas habe ich sie stur ignoriert, doch ebenso wenig brachte ich es übers Herz, sie wegzuwerfen. Das letzte Mal flackerte ihre Flamme und warf unruhige Schatten an die Zimmerwände, als wir miteinander schliefen.
    So viel ist passiert in den vergangenen drei Monaten – und doch so wenig. Noch immer weiß ich nicht, wie Jan sich gegen die drei Typen behaupten konnte. Dabei hatte ich mich deshalb tagelang mit Fragen gemartert. Doch wenn wir uns begegneten, war diese Sequenz wie gelöscht – als sei sie nie passiert. Er schafft es, mein Denkvermögen außer Kraft zu setzen, und ich bin ihm nicht böse deshalb.
    Doch jetzt, in diesen dunklen Stunden einer endlos erscheinenden Nacht, kommt mir die Szene wieder in den Sinn und zum ersten Mal wird mir bewusst, wie ähnlich die Begegnungen mit den drei Typen und die mit Jan im Grunde waren – vor allem unser letztes Aufeinandertreffen auf der anderen Seite des Flusses. In der Silvesternacht wollte ich weglaufen und der Dicke hat mich gepackt und an die Wand gedrückt – kalt war sie und hart, wie die Wand der Brücke. Auch Jan hat mich verfolgt, um mich zu packen und – nein. Nein, er hat mich nicht gepackt. Ich hatte ihn hinter mir gespürt und mich in der Bewegung umgedreht – und danach war es keine Flucht mehr, denn ich hatte ihn mit jedem meiner Rückwärtsschritte gelockt.
    Trotzdem, wo liegt der Unterschied? Denn dann hat er mich gegen die Brückenwand gedrückt und sein Knie zwischen meine Beine geschoben – aber nicht um mich zu fixieren, sondern am Fallen zu hindern? Mit geschlossenen Augen versuche ich mich in diese Sekunden zurückzuversetzen, was mir ein Leichtes sein sollte, denn ich habe es bereits unzählige Male getan.
    Er ließ mir Raum. Das war der Unterschied! Genau, das war es, dieser Raum, obwohl Jan mir so nah war. Ich hätte jede Sekunde gehen können, ohne die geringste Schwierigkeit. Noch nie habe ich mich in seiner Gegenwart eingeengt oder bedroht gefühlt – was Jonas vermutlich weder glauben noch verstehen würde, denn er ist blind davon ausgegangen, dass ich Jans Namen rief, weil er mir etwas angetan hat. Ihm würde gar nicht in den Sinn kommen, dass ich Jan um Hilfe angerufen habe.
    Aber die Berührung seiner Zunge auf meiner Wange, der Kuss, seine Nähe – all das war keine Gewalt gewesen. Ich war jederzeit frei, mich umzudrehen und zu verschwinden. Er hätte nicht versucht, mich aufzuhalten. Außerdem wollte ich, was er tat. Ich wollte es so sehr.
    Fast erlöst lasse ich meinen Atem durch meine Brust fließen, als ich tief in meinem Herzen spüre, dass ich mir nichts einrede oder zurechtkonstruiere. Es ist die Wahrheit. Er lässt mich frei.
    Aber genau darin lauert auch die Gefahr. Es bedeutet mir etwas und das darf es nicht, denn ihm ist gleichgültig, ob ich da bin oder nicht. Bedeutet denn auch er mir etwas? Ist das so?
    Doch wie kann ein Fremder mir etwas bedeuten – vor allem, wenn es jemand ist, der in sich sämtliche Negativattribute vereint, die ein Mann bieten kann, sofern man sich auf die inneren Werte fokussiert, und die waren mir doch immer das Wichtigste? Allein das ist ein Widerspruch.
    Es ist doch gut möglich, dass nur ich dieses grenzenlose, alte Vertrauen zwischen uns fühle, das sich meiner Vernunft entzieht und jeder Beschreibung trotzt. Es ist sogar wahrscheinlich, dass nur ich es fühle. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er in diesen Minuten ebenfalls wach liegt und an mich denkt – ach, dass er überhaupt jemals nachts nicht schlafen kann, weil ich durch seinen Kopf wandere.
    Obwohl ich ruhiger bin als vorhin, bemächtigt sich ein elendig schwaches Gefühl meines Magens. Das muss aufhören, das mit ihm und mir, und wenn es nicht aufhört, muss es zumindest anders laufen als mit den Männern vor ihm. Er darf mir nicht zu wichtig werden. Ich habe schon so viele Stunden nur in Gedanken an ihn verbracht.
    Ich sollte wieder vernünftig werden. Es gibt bedeutungsvollere Dinge und Herausforderungen in meinem Leben. Noch immer nicht ist es mir gelungen, meine Eltern davon zu überzeugen, dieses Forschungssemester finanziert zu bekommen, und auch vom Landesamt für Denkmalpflege erreichte mich kein Jobangebot. Mir ist klar, dass meine Eltern auf Zeit spielen, und das

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