Vor uns die Nacht
verstärkt mein Ohnmachtsgefühl nur. Sie warten darauf, dass ich von alleine aufgebe. Bisher war es immer so gewesen. Doch dieses Mal will ich mich durchsetzen. Ich möchte nach Frankreich und dann werde ich Jan sowieso nicht wiedersehen.
Erneut schiebe ich meinen rechten Arm aus dem warmen Deckenkokon und hole mein Handy vom Nachttisch, um das zu tun, wovor ich mich seit unserer letzten Begegnung drücke. Ich will mir die kurze Filmaufnahme ansehen, die ich unten am Fluss von ihm gemacht habe. Zwei Wochen liegt unsere Begegnung bereits zurück und ich konnte mich nicht dazu überwinden, sie mir anzuschauen. Diese Nacht ist der beste Zeitpunkt dafür. Nichts kann aufwühlender sein als der Traum.
Trotzdem wird mir flau, als ich die Galerie aufrufe und das Video aktiviere. Schon in der ersten Sekunde beginnt mein Herz schneller und härter zu schlagen, nicht angstvoll, sondern freudig und erregt. Die Kamera liebkost ihn … Verflucht, sieht er schön aus, wie er so ruhig und selbstverständlich an dem Baum lehnt und die Sonne in seinem Gesicht spielt. Mit seiner ebenmäßigen Haut, dem in die Stirn fallenden Haar und seinem fernen Blick, der sich hinter geschlossenen Lidern verbirgt und doch so präsent ist.
Er pflegt Liebschaften gegen Geld, bläue ich mir ein, was ich jeden Tag aufs Neue vergesse, und in meinen Nächten erst recht. Das, was ich hier aus purem Trotz heraus gefilmt habe, ist etwas, was andere nicht nur sehen, sondern auch fühlen dürfen – weil sie dafür bezahlen. Sie gönnen ihn sich.
»Nein!«, keuche ich wütend und lösche den Film, bevor ich ihn zu Ende ansehen kann. »Und ja, ich will!«, setze ich zischend hinterher, als das Handy mich fragt, ob ich das wirklich tun möchte. Ich werde mich nicht einreihen in die Riege von Jay Rivers Liebhaberinnen, auch wenn ich bisher kein Geld zahlen musste, weder dafür, ihn betrachten zu dürfen, noch für seinen Kuss noch für seine plötzliche Nähe. Das darf keine Rolle spielen. Ich darf ihm nicht verfallen.
So war es bisher doch immer gewesen: Sobald ich einem Typen derart nahegekommen war wie Jan, hatte sich für mich unweigerlich die Konsequenz ergeben, eine Beziehung anzusteuern. Ein Kuss war nicht nur ein Kuss, sondern ein Versprechen. Genauso, wie eine beschlossene Beziehung mit einem Kuss besiegelt wurde. Ich hatte es nie anders gewollt, aber es war jedes Mal schiefgegangen. Am Anfang schien alles perfekt und ich schwebte auf Wolke sieben, täglich Liebesbotschaften, Herzklopfen, Pläne beiderseits – und dann? Spätestens nach drei Monaten fingen sie an zu stottern und an mir vorbeizuschauen. Oder aber es kam gar nicht erst zu einer Beziehung, weil ich die ewige Flirterei mit ihren erschöpfend vielen Fragezeichen nicht mehr ertragen konnte, Tacheles redete und mir einen Korb einfing. Es war niederschmetternd genug, das zu erleben, das eine wie das andere, mit Jan soll so etwas auf keinen Fall passieren. Ach, es ist sowieso undenkbar, mit ihm auch nur irgendeine Verbindung anzustreben, die einer klassischen Beziehung ähnelt. Wie sollte das auch gehen mit jemandem, der seinen Körper verkauft und in seiner Freizeit mit »Mädchen« spielt?
Nein, dieses Mal werde ich die Zügel in der Hand behalten. Ich werde alles anders machen – und ich werde es steuern, ohne im Gegenzug etwas zu erhoffen. Keine Anrufe, keine Mails, keine Botschaften im Briefkasten, was, das muss ich zähneknirschend zugeben, auch gar nicht möglich ist, da ich von ihm weder eine Telefonnummer noch eine Mailadresse oder gar eine echte Anschrift habe. Ich bräuchte dafür zwar nur ein weiteres Mal ins Internet gehen und nach ihm googeln, seine Seite aufrufen, ihn dort kontaktieren – doch: Ich will es nicht. Denn dann warte ich. Das Warten habe ich satt.
Ich werde wie bisher freitags laufen gehen, mal bis zur anderen Seite, mal nicht. Zwei Abende haben wir uns bereits auf dieser Strecke getroffen. Und er hat ja betont, wie ausgeprägt seine Intelligenz ist, also wird er sich ausrechnen können, dass ich öfter zu dieser Zeit dort unterwegs bin. Wenn er mich sehen will, treibt er sich ebenfalls dort herum. Wenn nicht, tue ich wenigstens was für meine Fitness und werde bei den Ausgrabungen in Frankreich nicht beim ersten schwülen Sommerwetter ohnmächtig.
Eigentlich ist es ganz einfach – ich werde nichts weiter tun, als wie bisher joggen zu gehen. Meine Fantasien reduziere ich, das Suchen von schwülstiger Chilloutmusik auf Youtube auch und ansonsten wird alles
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