Vor uns die Nacht
Körper läuft. Sofort wende ich mich ab und renne davon.
Der Nachhall unserer Berührung wandert noch heiß durch meine Venen, als ich mit knirschenden Schritten über den Kiesstrand laufe und den Brückenpfeiler anpeile, doch ehe ich ihn erreicht habe, hat Jan mich eingeholt und in der Bewegung herumgewirbelt, nur durch seine Gegenwart; er hat mich nicht berührt. Rückwärts bewege ich mich dem verwitterten Beton der Brücke entgegen, sicher und geschmeidig wie eine Katze – es ist keine Flucht, sondern ein Locken. Der Schatten der Brücke ist bereits über uns, und ehe ich beschließen kann, etwas zu tun oder gar abzuhauen, drückt er mich gegen die kalte Wand und umfasst mit der Linken mein Gesicht.
Ich stöhne auf, als ich seinen Atem auf meinen Lippen fühle, jetzt noch nicht, doch, tu es, ich will es, aber er wartet, zögert es heraus, bis ich kaum mehr stehen kann und meinen Kopf drehe, um meine Zunge auffordernd über seine Fingerspitzen wandern zu lassen.
Mit einem Knurren beißt er in meinen Hals, nun umschließt er mein Gesicht mit beiden Händen, löst seine Zähne wieder, atmet, wartet, sagt nichts, bis unsere Lippen sich endlich finden und so vorsichtig und scheu liebkosen, dass ich aufwimmern möchte. Nur sein Knie, das er zwischen meine Schenkel geschoben hat, hält mich davon ab, die Balance zu verlieren.
»Nein«, flüstert es in mir, als er mich unvermittelt loslässt und zum ersten Mal anschaut, aus dunklen, schmalen Augen. Jung, denke ich. Du bist so jung … Was ist nur mit dir passiert?
Fast ungläubig schüttelt er den Kopf und schnuppert an seinem Handrücken, als wolle er sich beweisen, dass das hier wirklich geschehen ist, bevor er sich ohne ein Wort wegdreht, in seinem lässigen, aber kraftvollen Gang den Kiesstrand überquert und im Dickicht des Auwalds verschwindet.
Noch minutenlang stehe ich da, höre meinem Atem und Jans verklingenden Schritten zu, bis das rote Licht der untergehenden Sonne mich blendet und die Kälte des Abends das Feuer in mir besiegt. Mein Laufen gleicht einem sanften Schweben, als ich von der Brücke zurück in die Stadt finde und ihre bunten Häuserreihen betrachte, als sähe ich sie zum ersten Mal.
Ich möchte das wieder spüren.
Es war zu schön und zu schnell vorüber, um daran zu glauben, um sich auch nur eine Sekunde darauf zu verlassen. Es darf nicht das letzte Mal gewesen sein.
Und doch war es so gewaltig, dass ich es kaum fassen kann, weder in meinem Kopf noch in meinem Herzen. Ich werde Tage brauchen, um es in mich aufnehmen zu können, ohne mich unentwegt danach zu sehnen, dass es wieder geschieht.
Mit niemandem werde ich darüber reden. Jeder würde es kaputt machen, es zu Dreck verkommen lassen. Keiner würde es verstehen.
Es gehört nur mir.
Morgengrauen
E s ist nicht mein heiseres, hilfloses Schreien, das mich endlich aus meinem Traum reißt, sondern das Licht – matt und pulsierend, in einem sanften Dunkelblau, wie es meine Nachttischlampe nie hatte, und für einen Moment glaube ich, dass es das ist, was mich in diesen Albdruck geschickt hat. Etwas Schreckliches ist passiert, alle Lichter erlöschen für die Ewigkeit, die Welt stirbt. Dunkelheit überall.
Während das Pulsieren schwächer wird und sich schließlich im Morgengrauen auflöst, quält sich erneut sein Name aus meiner Kehle: »River!«
»Ronia! Ronia, wach auf, es ist nur ein Traum, wach auf.«
»Oh Gott«, flüstere ich panisch und nun wieder mit meiner eigenen, normalen Stimme. »Oh Gott, war das furchtbar …«
»Mach die Augen auf. Ronia? Bitte versuche, deine Augen zu öffnen.«
Mühevoll gehorche ich und es wirkt sofort. Die letzten Schatten der Dunkelheit weichen von mir und damit auch die Erinnerung an das pulsierende Licht. Doch was im Traum geschehen ist, bleibt in meinem Gedächtnis, in all seiner grausamen Brutalität. Während ich es zulasse, dass Jonas meine verkrampften Fäuste von der Bettdecke löst und mir das verschwitzte Haar aus der Stirn streicht, sehe ich mich wieder dort stehen, in einem finsteren, verwunschenen Irrgarten, und die Dämonen schießen aus dem schwarzen Nichts des Nachthimmels auf mich herab. Geflügelt sind sie und mit spitzen, scharfen Schnäbeln und Krallen bestückt, die an mir zerren und auf mich einhacken. Doch der körperliche Schmerz war es nicht, der dieses abgrundtiefe Grauen auslöste. In mir hatte etwas geschrien, das schlimmer war als der Tod – nämlich eine ewige, alle Zeiten überdauernde Angst um mein
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