Vor uns die Nacht
einige Sekunden auf meinen Knien ruhen, meine aufgerissenen Augen in die Büsche gerichtet, und versuche mich davon zu überzeugen, mich nicht getäuscht zu haben. Doch diese Stimme ist unverwechselbar.
»Wohin?«, frage ich und komme nicht umhin zu akzeptieren, dass Frauenstimmen niemals so sexy klingen wie Männerstimmen. Meine schon gar nicht.
Doch er hat sich schon wieder von mir abgewendet und geht voraus, fort vom Festgelände, was eine rasche Entscheidung verlangt – entweder weiter mit der Blasenentzündung flirten oder ein Abenteuer herausfordern. Ich entscheide mich fürs Abenteuer, zweifle aber schon nach den ersten zwei Minuten Fußmarsch ins Ungewisse wieder daran. Ja, wir nähern uns dem Fluss, wie auch ich es mir überlegt hatte, aber nicht in Richtung Promenade, sondern genau jenem Revier entgegen, das Jonas Rivers Drogenaktivitäten zugeordnet hat und ich meiden wollte. Alte Industrieflächen, Heissestraße – dort, wo sich Dealer herumtreiben und man immer etwas bekommt, wenn man von den härteren Sachen probieren möchte.
»Wohin gehen wir?«, durchbreche ich unser Schweigen, obwohl offensichtlich ist, wohin wir gehen. Doch er antwortet mir nicht. Es ist nur ein neues Spiel, in einer anderen Variante. Wie mutig ist die kleine Ronia? Oder will er Nägeln mit Köpfen machen und betrachtet mich lediglich als eine Kundin, die endlich für ihre Streicheleinheiten blechen soll, indem sie ihm seinen Rausch finanziert? Das kann er sich abschminken. Ich bleibe stehen und warte, bis er es merkt und sich in aller Ruhe zu mir umdreht.
»Was ist?«
»Das würde ich auch gerne wissen.«
»Wirst du gleich. Ist nicht mehr weit.«
»Ich … ich will nicht … das ist doch …«
»Mensch, Mädchen.« Kopfschüttelnd mustert Jan mich, aber die Dunkelheit verhindert, dass ich ihm in die Augen sehen kann. Dennoch weiß ich, dass es ein völlig anderes Mustern und Kopfschütteln ist als bei Jonas und Johanna. Es macht mich rasend.
»Nenn mich nicht immer Mädchen!«, bricht es aus mir heraus. »Ich hasse das!«
»Bist aber eins.«
»Bin ich nicht!«
»Ach komm, du spielst doch sogar in deinem Beruf noch im Sand.« Sein Lachen scheint mich trotz des unüberhörbaren Spotts zu streicheln und stachelt dabei meinen Zorn nur weiter an. Woher weiß er überhaupt, was ich studiere? Ist denn alles, was ich tue und nicht tue, öffentliches Gut in dieser Stadt?
»Ich grabe wichtige Dinge aus! Das ist kein Spielen, sondern harte Arbeit!«
»Schon gut. Und deine beste Freundin ist Pocahontas. Ronia Räubertochter und Pocahontas. Passt doch. Ab und zu gesellt sich dann noch Ritter Kunibert hinzu. Willst du jetzt weiter durch die Gegend blöken oder kommst du mit?«
»Du lebst ziemlich gefährlich, weißt du das?« Plötzlich habe ich mich wieder im Griff und zum ersten Mal klingt meine Stimme so, wie ich sie gerne haben möchte. Er kann noch so unverschämt sein – er hat sich soeben verraten. Denn er hat sich mit mir beschäftigt. Er weiß um mein Studium und um Johanna und um Jonas; das geht nur, wenn er mich beobachtet und sich Gedanken um mich gemacht hat. Es verleiht mir Heldenmut. Ohne jede Hast gehe ich ihm entgegen und spüre überdeutlich, wie meine Schritte meine Hüfte sanft bewegen – das merke ich sonst nur, wenn ich getrunken habe. Die Sohlen meiner Schuhe geben keinen Laut von sich. Ich schleiche wie eine Katze und ich genieße es.
»Wild und gefährlich«, entgegnet er ironisch, als ich vor ihm stehen bleibe und mich weigere, ihn anzusehen. So einfach mache ich es ihm nicht. »Kannst was davon abhaben, wenn du willst. Falls du dich traust, Mädchen.«
Wieder wendet er sich ab und geht voraus. Doch noch bleibe ich stehen. Erst als seine Gestalt mit der Dunkelheit eins zu werden droht, beginne ich ihm wieder zu folgen. Ob er vielleicht sogar schon was genommen hat? Jemand wie er wird kaum nüchtern das Brunnenfest besuchen und nachts Mädchen ins Dunkle locken. Doch er hat klar artikuliert und schwankt auch nicht, sondern strahlt beim Laufen die gleiche schlafwandlerische Sicherheit aus, die ich selbst gerade in mir spüre, obwohl sie sich mit all meinen Befürchtungen widerspricht.
Nun biegt er links ab. Ich halte mich ein paar Meter hinter ihm, damit ich jederzeit abhauen kann, wenn es mir zu dumm wird. Er testet mich und meine Entschlossenheit, daran gibt es keinen Zweifel. Aber ich entscheide, wie lange ich mitspiele. So weit habe ich mich abseits der Promenade und auf dieser Flussseite nie
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