Vor uns die Nacht
zu Fuß vorgewagt, doch noch habe ich einen Rest von Orientierungsgefühl – wir müssten uns auf dem Parallelweg zur Heissestraße befinden, also recht nah an dem Ort, wo die Typen in der Silvesternacht auf mich losgegangen sind. Der Fluss links von uns stärkt mein Vertrauen. Solange ich seine Wellen höre und ihn riechen kann, kann mir das, was vor mir im Ungewissen liegt, nichts anhaben.
Noch einmal biegt Jan ab, dieses Mal nach rechts, zwischen zwei alten Werftgebäuden hindurch. Prüfend blicke ich über meine Schulter. Gut, ich kann die Brücke noch erkennen, sie ist nah genug, um sie in einem Fünfminutenlauf zu erreichen und somit auch mein vertrautes Terrain. Jan wird langsamer, dann bleibt er stehen und lauscht. Warnend hebt er die Hand und ich schlucke meine Frage wieder herunter, so schwer es mir auch fällt. Außerdem weiß ich jetzt, wo wir sind. Das lang gestreckte, barackenähnliche Haus vor uns kenne ich aus der Zeitung. Betreten habe ich es noch nie, obwohl ich als Kind meine Eltern wochenlang um eine Katze angebettelt habe. Aber Mama ist allergisch gegen so ziemlich jedes Lebewesen mit Fell und Papa hat keinen Sinn für Tiere. Also blieb es beim Betteln und Träumen. Jetzt, mit einundzwanzig Jahren, stehe ich zum ersten Mal vor dem städtischen Tierheim. Jan schaut nach rechts, dann nach links, lauscht erneut in die nächtliche Stille hinein. Aber hier ist niemand außer uns. Auffordernd winkt er mich zu sich.
Nun wird mir doch mulmig und dieses Gefühl verstärkt sich, als er einen zurechtgebogenen Draht aus seiner Jackentasche zieht und sich am schmiedeeisernen Törchen des Tierheimgeländes zu schaffen macht. Er tut es so routiniert, als mache er derartige Dinge jede Nacht.
»Das hier ist ein Einbruch«, weist mein Neokortex mich pflichtbewusst darauf hin, dass ich soeben Zeugin eines Verbrechens geworden bin – und mich allein deshalb strafbar mache, weil ich nichts dagegen unternehme und stattdessen tatenlos zusehe, wie Jan das Schloss knackt, das Törchen öffnet und mich erneut zu sich winkt.
»Was willst du da? Warum brichst du hier ein?«
Er zuckt nur mit den Achseln und ist schon dabei, das Tor wieder hinter sich zu schließen, als ich es mir anders überlege und im letzten Moment durchschlüpfe. Wortlos verriegelt er es und hat bereits den Draht für das nächste Tor zu den Zwingern aus der Tasche geholt. Zu den Zwingern? Nicht zum Bürogebäude?
»Lass mich vorausgehen, sonst schlagen sie an«, wispert er. »Ist ein Wunder, dass sie es nicht schon getan haben.«
»Gut«, erwidere ich ohne Stimme, doch selbst wenn ich wollte, hätte ich keine mehr. Irgendwas läuft hier gewaltig schief und ich begreife immer weniger, warum ich mich in meiner Lebendigkeit fast euphorisch fühle. Johanna und ich haben uns früher nicht mal getraut, uns jenem Ritual anzuschließen, das jeder Jugendliche in dieser Stadt irgendwann einmal vollführt – in einer heißen Sommernacht über die Mauer des Freibads zu klettern und schwimmen zu gehen. Aber Jan und ich brechen in ein Tierheim ein und der Sinn dieser Aktion liegt absolut im Dunkeln. Was will er hier nur?
Von den Zwingern ertönt unterdrücktes Winseln und Bellen, doch Jans entschiedenes »Aus« sorgt augenblicklich für Ruhe. Diese Hunde kennen ihn. Wie geht das, es werden doch immer wieder Hunde vermittelt und neue stoßen dazu?
Nach nur wenigen Minuten schiebt sich sein Schatten um die Ecke und er kommt zu mir zurück, begleitet von drei gedrungenen, aber kräftigen Tieren, die aufgeregt hecheln. Sobald sie in den matten Schein der Straßenlampe tapsen, kann ich ihre Rasse identifizieren. Diese Hunde kennt jeder, der ab und zu Zeitung liest und fernschaut. Es sind Pitbulls.
»Nein, bleib stehen, die tun nichts … Hey. Ronia. Glaub mir, die tun nichts. Hab keine Angst, dann bleiben sie ruhig. Es ist ganz einfach. Tu so, als wären es Schoßhunde.«
»Was soll das?«
Ich zwinge mich, gleichmäßig weiterzuatmen, weil die Tiere genau spüren müssen, dass ich mich erschreckt habe. Macht sie das nicht erst recht aggressiv? Der Mittlere, ein weiß-schwarz gescheckter, bulliger Rüde, wird von Jan am Halsband festgehalten, die anderen sind völlig frei. Fast rücksichtsvoll schnuppert einer von ihnen an meinem linken Fuß. Ich rühre mich nicht von der Stelle. Jan geht in die Hocke, um den Rüden an sich zu drücken, woraufhin dieser ihm sanft mit der Zunge über die Wange leckt. Aha. Daher also seine Inspiration. Knurren, beißen,
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