Vorgetäuscht: Liebesroman (German Edition)
stattdessenauf das fertige Produkt konzentrierten, das dann zwar allen formalen Kriterien entsprach, in dem es aber keinen einzigen originellen Gedanken mehr gab.
»Mit anderen Worten: Sie werden nicht als Mittel
zum
Zweck unterrichtet, sondern als Mittel
und
Zweck«, sagte Devin.
»Du hast’s kapiert, Baby«, sagte ich, und mein Adrenalinpegel stieg rasant an. »Das ist der heutige Traditionalismus in seiner puritanischsten Form.« Dann fasste ich Robert Connors Artikel
Aufstieg und Fall der Schreibformen
zusammen und gab Devin einen Crashkurs in der Geschichte des Unterrichtsfachs Kreatives Schreiben an amerikanischen Universitäten. Er hörte meinen Ausführungen mit einem merkwürdigen Ausdruck von Freude und Bewunderung zu.
»Du bist ein akademischer Snob – weißt du das eigentlich?«, provozierte er mich. »Wie weißt du denn, dass du auf deine eigene Art und Weise nicht auch irgendwie eine Fundamentalistin bist?«
»Eine gute Schreiblehrerin«, erwiderte ich. »Hat alle Theorien verinnerlicht und unterrichtet sie auch. Ich spreche auch über die Schreibformen – aber es ist nicht so, als würde sich mein ganzer Kurs um sie drehen. Ich finde sie aber genauso notwendig wie den klassischen Kanon seit Aristoteles. Ich unterrichte Schreibtheorien in Hinblick auf ihren jeweiligen spezifischen sozialen Kontext, und die Genres, die in diesem Kontext entstehen, je nach ihrem eigentlichen rhetorischem Zweck und den Lesern. Ich ermuntere meine Studenten zur Metakognition, indem sie ihren eigenen Schreibprozess reflektieren. Schlussendlich glaube ich jedoch an die Kraft des Ausdrucks und an Prozess-orientierte Methoden: Sprache zu gebrauchen, um Bedeutung zu schaffen und das eigene Selbst im Verhältnis zu anderen verstehen zu lernen. Und das ist kein Rundum-Sorglos-Paket. Es funktioniert nämlich nicht immer. Aber bei mir schon.«
»Trotzdem bist du ein Snob.«
»Und meine Rhetorik-Professorin liebt mich dafür.«
Devin hatte seine biografische Abhandlung beendet:
Wie gewonnen, so zerronnen
Als ich elf Jahre alt war, habe ich mit der fünften Klasse einen Ausflug zu einer Picasso-Ausstellung ins Museum of Modern Art nach New York gemacht. Ich wäre lieber ins Shea-Stadium gefahren, um dem Schlagtraining zuzusehen, oder hätte am Jones Beach ein paar Surfstunden genommen. Mir Bilder anzusehen, stand ziemlich weit unten auf der Liste meiner Freizeitveranstaltungen. Vor dem Ausflug hatten wir uns eine Woche mit Picasso beschäftigt, aber ich erinnere mich nur noch daran, dass er irgendein komischer spanischer Kauz war, angeblich ein Genie.
Da ich an der Südküste von Long Island aufgewachsen war, beeindruckte Manhattan mich nicht so wie jemanden, der aus einem anderen Teil des Landes kam, einem idyllischeren und weniger dicht bevölkerten. Schließlich war es immer da. An klaren Tagen konnte man sogar von einem bestimmten Punkt am Northern State Parkway ganz schemenhaft die Doppelspitze der Twin Towers erkennen. (Natürlich nur, wenn man Ausschau nach ihnen hielt.)
Dies war mein erster Besuch im MOMA, und ich erwartete nicht, dass das Museum mich beeindrucken würde, sondern eher, dass ich gelangweilt wäre. Doch in dem Moment, in dem ich das Museum betrat, war das alles wie weggeblasen. Dieses Marmorschloss – gigantisch hohe Wände voller Bilder, Skulpturen, Zeichnungen und Wandteppichen warteten darauf, dass ich sie erkundete, und ich konnte gar nicht alles auf einmal aufnehmen. Ich hatte große Lust, auf den schimmernden Fluren auf meinen Socken entlang zu rutschen, doch plötzlich verkündete ein
Dozent,
dass die Führung durch die Ausstellung jetzt beginnen sollte. (Den Begriff Dozent sollte ich später noch in anderem Zusammenhang hören, aber damals als Elfjähriger bedeutete er einfach nur: langweiliger alterFührer.) Ein magerer Mann mit weißen Haaren, der uns jedes Gemälde so ausführlich erklärte, als wären wir Kunsthistoriker und freiwillig hier – und keine genervten Kinder, die lieber ins Shea Stadium gegangen wären. Meine Mitschüler langweilten sich und machten sich über ihn und die Bilder lustig, indem sie seine Stimme und Gesten nachäfften.
Schon im zweiten Raum hörten wir dem Dozenten nicht mehr zu. Wir kamen an einem anderen Raum vorbei, der meine Aufmerksamkeit erregte. Ich stahl mich von meinem gefürchteten
Kumpel
Steven Marino weg (der eigentlich gar nicht mein Kumpel war; wir alle hatten einen, damit wir auf Ausflügen nicht verloren gingen). Als wir ein
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