Vorgetäuscht: Liebesroman (German Edition)
kubistisches Gemälde von Picasso ansahen, entkam ich der Truppe.
In diesem neuen Raum stand die Zeit still. Das erste Bild, das ich sah, beanspruchte fast eine ganze Wand. Es kam mir bekannt vor, wie ein Fingerfarbenbild aus meiner Kindheit. Aber als ich näher heranging, konnte ich fast jede nur vorstellbare Farbe in den hingeworfenen winzigen Pinselstrichen ausmachen. Ich sah alles verschwommen und konnte keine Umrisse oder Formen mehr erkennen; aber ich konnte die Bewegung des Künstlers sehen, als wüsste ich, was er gedacht hatte, als er es malte. Wenn ich wieder zurücktrat, lösten sich die vielen Farben und Pinselstriche vollkommen in die Formen von Wasserlilien auf. Ich spazierte im Raum herum und ging so nah an die Bilder heran, wie ich mich traute. Ich lief fast auf den Zehenspitzen, aus Angst, die Bilder zu stören – sie sahen so lebendig aus und ich war ein Spion.
Ich muss einen merkwürdigen Anblick abgegeben haben: ein Elfjähriger in Jeans, einem Glitzer-T-Shirt von den Rolling Stones und Adidas-Turnschuhen, der von den Bildern an den Wänden fasziniert war. Mir war das egal. Ich war eingetaucht in das Gestöber von Tausenden von Pinselstrichen. Gewagte und sanfte, rote und grüne, alle übereinander, alles in einem Raum.
Das Gemälde von einer Ballerina, das fast versteckt in einer Ecke hing, war das atemberaubendste von allen. Sie sah aus, als wollte sie aus dem Rahmen hervorspringen und nur für mich tanzen. Sie sah so vergänglich, zierlich und sinnlich aus.
Das war also Kunst. Plötzlich war Picasso nicht mehr irgendein komischer spanischer Kauz, und dies waren nicht irgendwelche Gemälde – es waren Formen, Umrisse, Farben. Es war wie mit den Twin Towers: Du musstest wissen, wohin du gucken solltest. Sie nahmen mich mit an einen Ort, der weit entfernt war von meinen Kindheitserfahrungen mit Pappmaschee und Fingerfarben, in eine Welt, die so weit aus der Zeit entrückt schien, wie ich von meinen Klassenkameraden entfernt war, bis eine der uns begleitenden Mütter mich fand (Stephen musste mich wohl verpetzt haben). Sie zerrte mich wieder zu den anderen Schulkindern zurück, die immer noch ein Bild nach dem nächsten ansahen. Ich erinnere mich nicht mehr, ob meine Lehrerin böse mit mir war, weil ich mich aus der Gruppe entfernt hatte, denn ich bereute meine Flucht nicht. Ich hörte nicht, wie sie mich bestrafte, ich sah nur, wie ihre Lippen sich in winzigen, gewagten Pinselstrichen aus allen Rottönen bewegten. Der Dozent redete weiter auf uns Kinder ein, und wir sahen uns stumpfsinnig die Picassos an, die Mütter behielten mich im Auge und ich sah alles und nichts: nichts, was real aussah, die ganze Welt in Pinselstrichen. Solche Bilder wollte ich auch malen.
Am selben Abend, ich war noch immer ganz erfüllt von meiner Entdeckung, verkündete ich meinen Eltern, dass ich Künstler werden wollte. Ich war mir ganz sicher.
Mein Vater knurrte etwas Unverständliches, meine Mutter sah lange genug von ihrem Buch auf, um zu sagen: »Das ist ja schön.«
Ich versuchte es noch einmal. »Dad«, drang ich in ihn, »ich werde Künstler – ein Maler.«
»Alles, was Männer anmalen, sind Häuser.«
»Aber …«
»Wenn du Maler werden willst, solltest du dir als Erstes mal ein paar Feenflügel malen.«
Das war’s. Ich sagte nichts mehr und ging hinaus.
An dem Tag brach mir das Herz. Ich entdeckte eine Leidenschaft und verlor sie auf eine Art und Weise, die so schnell und vergänglich war wie die Pinselstriche. Ich hatte erfahren, was Schönheit warund eine neue Art zu sehen gefunden, und das konnte ich nicht mehr ändern oder vergessen. Genauso wenig wie ich meinen Vater dazu bringen würde, die Harmonie des Chaos in einem einzigen Pinselstrich zu erkennen. Meinen Vater sah ich nicht mehr verklärt, sondern in den ausgewaschenen Farben der Wirklichkeit. So wie er wollte ich nie werden. Er stand für alles, was ich nie sein würde.
In den folgenden Jahren machten wir noch mehr Ausflüge in Museen, aber nie mehr sollte ich eine ähnliche Hochstimmung wie bei meiner Flucht und die Freude der Zeitlosigkeit erleben wie in der fünften Klasse. Aber ich entdeckte die Einsamkeit und ließ sie nie wieder gehen.
Wir hatten beide große Fortschritte gemacht. Ich hatte mein Visier seit der Badewannen-Episode heruntergelassen und fühlte mich schon viel wohler, wenn ich mich vor Devin auszog und ihm meinen Körper zeigte. Ich ließ mich intensiver auf den Lernprozess ein, ohne mir dauernd Sorgen
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