Vorhang auf für eine Leiche
huschte, die jetzt als drohende Umrisse über mir in den schneeerfüllten Himmel aufragten. Die Sturmwolken, die wie Luftschiffe, aus denen das Gas entwich, über mir schwebten, hingen so tief, dass ich sie beinahe anfassen konnte.
Der letzte Weg war zurückgelegt, und Phyllis Wyverns Gedenkrakete lag wieder in meinen Armen. Ich konnte sie schlecht quer über das ganze Dach mit mir herumschleppen, während ich meine Vorbereitungen traf, andererseits konnte ich sie nirgendwo ablegen, denn dann wäre sie schnell nass und unbrauchbar geworden.
Ich würde sie senkrecht an der Ostseite eines Schornsteins abstellen, wo sie vor dem Sturm geschützt war und schon zum Abschuss bereitstand, sobald die Zeit gekommen war.
Es kam mir vor, als stapfte ich meilenweit durch knietiefen Schnee, und ich atmete auf, als ich mein Ziel erblickte: die hohen, schlanken Schornsteinaufsätze von Buckshaws Westflügel. Erstaunlich problemlos konnte ich die Rakete inmitten der Blumentopffeuerwerkskörper aufstellen, indem ich das dreibeinige Stativ aufklappte, das ich aus mehreren von Feelys Kleiderbügeln gebastelt hatte.
Ich brauchte nur noch das Sturmfeuerzeug zu betätigen, und – SSSSST! – die Rakete würde wie ein flammender Komet in den Nachthimmel emporsteigen und mit einem so lauten KRAWUMM! explodieren, dass sogar der heilige Tankred wach würde, der seit über fünfhundert Jahren unter dem Altar der Dorfkirche schlummerte. Seinetwegen hatte ich eine extra Tasse Schießpulver in die Innenkammer der Rakete geschüttet. Er sollte sich schließlich nicht von den Feierlichkeiten ausgeschlossen fühlen!
Die Rakete sollte das Finale meiner kleinen Vorführung chemischer Feuerwerkerei darstellen. Erst kamen die Goldregen und die aufplatzenden Blüten aus rotem Feuer, die vom Knallen und Rumsen der bengalischen Böller abgelöst würden.
Ich schlang die Arme um mich, teils aus Vorfreude, teils wegen der erbärmlichen Kälte.
Den Anfang aber würde der Salut für den König machen, eine hübsche, sehr eindrucksvolle Darbietung, deren Rezept ich in einem von Onkel Tars Notizbüchern entdeckt hatte. Es war ursprünglich 1749 von den berühmten Gebrüdern Ruggieri für König George II. zusammengestellt worden, als Begleitung für die Musik, die Mr Händel eigens für das königliche Feuerwerk komponiert hatte.
Da das riesige Holzgebäude, das zur Unterbringung der königlichen Musiker errichtet worden war, damals von dem Feuerwerk in Brand gesteckt worden und niedergebrannt war und die schiere Menge der Schaulustigen einen Bogen der London Bridge zum Einstürzen gebracht hatte, galt jene erste Aufführung als nicht rundum gelungen.
Vielleicht konnte ja mein Nachbau einiger dieser berühmten Explosionen für diese peinliche nationale Pleite entschädigen.
Also Vorhang auf!
Ich wischte den Schnee von meinen wasserdichten Blumentöpfen und griff in die Tasche mit dem Feuerzeug. Wenn der Wind auch nur einen Moment nachließ, brauchte ich nicht mehr als einen guten Funken, um ein Spektakel auszulösen, von dem man noch sprechen würde, wenn ich mich als zahnlose Greisin kichernd über meine chemischen Hexenkessel beugte.
Ich trat einen Schritt zurück, um einen letzten Blick auf die mit so viel Liebe hergestellten Knallkörper zu werfen.
Vielleicht lag es daran, dass ich die Augen zum Schutz vor dem peitschenden Schnee zusammenkneifen musste, dass mir die zweite Fußspur, die zur Tür führte, nicht gleich aufgefallen war.
Der Weihnachtsmann!, schoss es mir durch den Kopf. Er hat seinen Schlitten abgestellt, ist quer übers Dach marschiert und auf dem gleichen Weg ins Haus eingedrungen, auf dem ich hier aufs Dach herausgekommen war.
Aber warum? Warum war er nicht schnurstracks in den Schornstein geklettert, wie er es seit Hunderten von Jahren gewohnt war?
Ach so! Das war doch klar wie Kloßbrühe. Der Weihnachtsmann war ein übernatürliches Wesen. Deshalb wusste er natürlich von meinem Leim und hielt sich tunlichst davon fern! Aber … hinterließen übernatürliche Wesen eigentlich Spuren im Schnee?
Warum hatte ich nicht schon früher daran gedacht? Der Gedanke lag schließlich auf der Hand und hätte mir einen Haufen Arbeit erspart.
Doch halt! Ich war doch selbst vorhin auf diesem Teil des Dachs gewesen und hatte die Töpfe für mein Feuerwerk aufgestellt.
Klar doch! Was bist du nur für ein kleiner Dummkopf, Flavia!
Das waren meine eigenen Fußspuren.
Trotzdem … eigentlich konnte das nicht sein. Seit ich zuletzt auf
Weitere Kostenlose Bücher