Vorhang auf für eine Leiche
Kopf.
»Sie waren es also!«, keuchte ich. »Sie und Val Lampman.«
Sie zischte nur verächtlich wie eine Schlange, streckte den Bambusstab aus, setzte ihn mir mitten auf die Brust und verpasste mir einen kräftigen Stoß.
Ich schrie auf, schaffte es aber irgendwie, mich in ihre Stoßrichtung zu drehen. Gleichzeitig zog ich mich wieder ein Stück höher.
Doch die Mühe hätte ich mir sparen können. Der Isolator baumelte direkt vor meinem Gesicht. Im nächsten Augenblick würde sie mir die Augen ausstechen oder mir den Draht in den Mundwinkel bohren wie einen Angelhaken.
Reflexartig packte ich die Stange und knallte sie gegen den Kamin. Marion ließ los, und die Stange fiel in den Schnee.
Meine Angreiferin war jetzt so wütend, dass sie sich unbewaffnet auf mich stürzte, als wollte sie mich mit bloßen Händen in Stücke reißen. Sie hatte sich schon halb zu mir hochgezogen, da durchfuhr sie ein jäher Ruck. Wie ein im Flug getroffenes Rebhuhn hielt sie inne und stieß einen erstickten Fluch aus.
Der Vogelleim! Juhuu – der Vogelleim!
Ich hatte dieser windabgewandten Seite des Salonschornsteins eine Extraportion des klebrigen Zeugs spendiert, weil ich annahm, dass der Weihnachtsmann genau hier aus seinem Schlitten steigen würde.
Marion Trodd zog und zerrte wie eine Rasende. Sie versuchte, aus den festgeklebten Handschuhen zu schlüpfen, aber je mehr sie sich sträubte, desto mehr klebte sie mit ihren Reitstiefeln und dem langen Mantel fest.
Ich hatte beim Anrühren der Pampe überlegt, ob die Kälte die Klebkraft beeinträchtigen würde – das hier war der Gegenbeweis. Wenn überhaupt, war der Leim noch klebriger geworden. Marion konnte sich nur befreien, wenn sie sich alle Sachen auszog.
Ich nutzte den Aufschub und beugte mich abermals über die Zündschnur.
Klick! Klick! Klick!
Verflixt und zugenäht! Das verdammte Feuerzeug wollte einfach nicht angehen!
In der beklemmenden Stille, in der Marion Trodd vergeblich versuchte, sich zu befreien, drang mit einem Mal Gesang an meine Ohren:
»Doch in den dunklen Gassen das ew’ge Licht heut scheint
Für alle, die da traurig sind und die zuvor geweint.«
Ich weiß nicht, warum, aber die Worte gingen mir durch und durch.
»Dogger!«, rief ich. Meine Stimme klang in der eiskalten Luft heiser und dünn. »Hilf mir, Dogger!«
Dabei war mir im Grunde klar, dass mich die Singenden nicht hören würden. Abgesehen davon war es viel zu weit vom Dach bis in die Eingangshalle – viel zu viele Lagen Ziegel und Balken trennten uns.
Der Wind riss mir die Worte von den Lippen und trug sie ungehört über die gefrorenen Felder davon.
Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich einfach wegrennen konnte. Ich musste nur über Marion Trodd hinwegspringen und zur Treppe laufen.
Ich war mir so gut wie sicher, dass sie die Tür offen gelassen hatte. Wie wäre sie sonst wieder ins Haus gelangt, nachdem sie mir den Garaus gemacht hatte?
Als ich sprang, fletschte sie die Zähne und verzog das Gesicht zu einer wütenden Grimasse, konnte sich aber nicht losreißen, um mich aufzuhalten. Ich flog über ihre Schulter und landete mit angewinkelten Knien im weichen Schnee.
Ich hätte ihr gern zum Abschied eine trotzige, spöttische Bemerkung ins Gesicht geschleudert, aber mir fiel nichts ein. Angst und die Eiseskälte hatten mich in ein zitterndes Bündel verwandelt.
Dann rannte ich quer über das Dach, als wären mir sämtliche Höllenhunde auf den Fersen.
Ich hatte Glück. Wie vermutet, stand die Tür zur Treppe offen. Gelbes Licht fiel in einem warmen, einladenden Rechteck auf den Schnee.
Noch sechs Schritte, und ich bin in Sicherheit, dachte ich.
Da füllte plötzlich eine schwarze Silhouette die Türöffnung aus, versperrte dem Licht den Weg heraus und mir den Weg hinein.
Ich erkannte ihn sofort. Es war Val Lampman.
Ich kam schlitternd zum Stehen und legte den Rückwärtsgang ein, wobei ich mir vorkam wie auf Schlittschuhen.
Ich erreichte den Salonschornstein und zog mich wieder auf den untersten Vorsprung hinauf. Dabei drehte ich mich nicht um. Ich wollte gar nicht wissen, ob Val Lampman mich schon eingeholt hatte.
Vielleicht konnte ich ihn ja in die gleiche Falle locken wie Marion Trodd. Sie hatte nichts von dem Leim geahnt, und auch ihn würde ich ganz bestimmt nicht warnen.
Als ich höher kletterte, sah ich, dass er gemütlich heranspaziert kam. Gelassen, aber zielstrebig – so ließ es sich am ehesten beschreiben.
Höchstwahrscheinlich hatte er Marion Trodd
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