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Vorhang

Vorhang

Titel: Vorhang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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Verdacht, dass er spielte, trank und vor allem ein Schürzenjäger war.
    Wie ich bemerkte, mochte ihn der alte Colonel Luttrell auch nicht besonders, und Boyd Carrington legte ihm gegenüber ebenfalls eine recht kühle Haltung an den Tag. Die Damen schienen Allerton zu schätzen. Mrs Luttrell kicherte entzückt, während er ihr lässig und ziemlich unverschämt Komplimente machte. Es kränkte mich zu sehen, dass selbst Judith sich in seiner Gesellschaft wohlzufühlen schien und mehr als sonst aus sich herausging. Warum die nettesten Frauen immer auf die übelste Sorte von Männern fliegen, ist ein Rätsel, das noch niemand gelöst hat. Ich spürte instinktiv, dass Allerton ein Lump war – und neun von zehn Männern hätten mir sofort zugestimmt. Wohingegen von zehn Frauen neun oder gar alle zehn augenblicklich auf ihn hereingefallen wären.
    Als wir bei Tisch saßen und uns Teller mit einer klebrigen weißen Flüssigkeit serviert wurden, ließ ich meine Augen in die Runde schweifen und wog die Möglichkeiten ab.
    Wenn Poirot recht hatte und die Klarheit seiner Gedanken nicht gelitten hatte, war eine dieser Personen ein gefährlicher Mörder – und wahrscheinlich auch ein Wahnsinniger.
    Poirot hatte es zwar nicht ausdrücklich gesagt, aber ich nahm an, dass X ein Mann war. Welcher dieser Männer mochte es sein?
    Gewiss nicht der alte Colonel Luttrell mit seiner offensichtlichen Unentschlossenheit und Nachgiebigkeit. Etwa Norton, der Mann, den ich mit einem Fernglas in der Hand aus dem Haus hatte stürzen sehen? Das war unwahrscheinlich. Er schien ein netter Kerl zu sein, eher untüchtig und wenig energisch. Natürlich, sagte ich mir, hatte es viele Mörder gegeben, die kleine, unscheinbare Menschen gewesen waren und sich gerade deswegen durch Verbrechen bestätigen mussten. Sie litten darunter, dass sie übergangen und ignoriert wurden. Norton könnte ein Mörder dieses Typs sein. Dagegen sprach seine Liebe zu Vögeln. Ich bin immer der Ansicht gewesen, dass die Liebe zur Natur ein untrügliches Zeichen für einen guten Charakter ist.
    Boyd Carrington? Ausgeschlossen! Ein Mann, dessen Name in der ganzen Welt bekannt war. Ein guter Sportsmann, ein Staatsbeamter, ein Mann, der überall geschätzt und geachtet wurde. Franklin schloss ich ebenfalls aus. Ich wusste, wie viel Respekt und Bewunderung ihm Judith entgegenbrachte.
    Und schließlich Major Allerton. Ich beobachtete ihn abschätzend. Einer der übelsten Burschen, denen ich je begegnet bin! Einer von der Sorte, die ihre eigene Mutter verkaufen würden. Und alles überdeckt mit einer Lackschicht aus oberflächlichem Charme. Er führte gerade das Wort und gab eine Geschichte zum Besten, bei der er schlecht wegkam und die Kläglichkeit seiner Selbstdarstellung alle zum Lachen brachte.
    Wenn Allerton X war, so sagte ich mir, dann hatte er seine Verbrechen in irgendeiner Weise aus Gewinnsucht begangen.
    Poirot hatte allerdings nicht ausdrücklich gesagt, dass X ein Mann sein müsse. Ich schloss Miss Cole in meine Überlegungen ein. Ihre Bewegungen waren ruhelos und fahrig – anscheinend litt sie unter Nervosität. Ihr hübsches Gesicht hatte einen gequälten Zug, aber im Großen und Ganzen wirkte sie normal. Sie, Mrs Luttrell und Judith waren die einzigen Frauen am Tisch. Mrs Franklin nahm ihr Essen oben auf dem Zimmer ein, und ihre Pflegerin, die sie dabei bediente, aß nach uns.
    Nach dem Essen stand ich im Wohnzimmer an der Terrassentür, schaute in den Garten und dachte an die Zeit zurück, als ich Cynthia Murdoch, ein junges Mädchen mit kastanienbraunem Haar, über den Rasen hatte laufen sehen. Wie reizend sie in ihrer weißen Schwesternuniform ausgeschaut hatte…
    Ich fuhr aus meinen Gedanken auf, als Judith ihren Arm unter meinen schob und mich hinaus auf die Terrasse zog.
    »Was ist los?«, fragte sie unvermittelt.
    Ich war bestürzt. »Los? Was soll denn los sein?«
    »Du warst den ganzen Abend so komisch. Warum hast du beim Essen jeden so angestarrt?«
    Ich war verärgert. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass ich meinen Gedanken so deutlich Ausdruck gegeben hatte.
    »Hab ich das? Ich habe wohl an die Vergangenheit gedacht und vielleicht Gespenster gesehen.«
    »Ach ja, natürlich, du warst ja als junger Mann hier. Wurde damals nicht eine alte Frau ermordet oder so etwas?«
    »Sie wurde mit Strychnin vergiftet.«
    »Wie war sie? Nett oder ekelhaft?«
    Ich dachte nach.
    »Sie war eine sehr nette Frau«, antwortete ich langsam. »Freigebig. Sie gab viel für

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