Vorhang
der Mörder zur Tat entschlossen – es könnte hier genauso sein.«
»Sie haben noch eine dritte Methode erwähnt«, erinnerte ich ihn.
»Ach ja! Aber diese erfordert allergrößte Geschicklichkeit. Man muss genau erraten, wann und wie der Mörder zuschlagen wird, und im psychologisch richtigen Moment eingreifen. Man muss den Mörder nicht gerade auf frischer Tat ertappen, aber doch bei der eindeutig erwiesenen Absicht zu morden. Das, mein Freund, ist eine äußerst diffizile und delikate Angelegenheit, und ich kann für den Erfolg dieser Methode nicht im Geringsten garantieren. Ich mag zwar eitel sein, aber so eitel nun auch wieder nicht.«
»Welche Methode wollen Sie in diesem Fall anwenden?«
»Nach Möglichkeit alle drei. Die Erste ist die schwierigste.«
»Wieso? Ich hätte gedacht, sie sei die leichteste.«
»Ja, wenn man weiß, wer das Opfer sein soll. Aber ist Ihnen noch nicht klar geworden, Hastings, dass ich in diesem Fall das Opfer nicht kenne?«
»Was?«
Ich hatte meiner Überraschung unwillkürlich Luft gemacht. Doch dann begann mir die Problematik unserer Lage zu dämmern. Zwischen den einzelnen Verbrechen musste es eine Verbindung geben, aber wir wussten nicht, welche. Das Motiv, das unbedingt notwendige Motiv, fehlte. Und ohne es zu kennen, konnten wir nicht herausbekommen, wessen Leben bedroht war.
Poirot nickte, als er an meinem Gesichtsausdruck merkte, dass mir die Schwierigkeit der Situation allmählich klar wurde.
»Sie sehen, mein Freund, es ist gar nicht so einfach.«
»Ja«, meinte ich, »das sehe ich. Sie haben bisher keine Verbindung zwischen den verschiedenen Fällen feststellen können?«
Poirot schüttelte den Kopf. »Nichts.«
Ich überlegte. Damals bei den Abc-Morden hatte es sich dem Anschein nach um eine alphabetische Reihenfolge gehandelt, doch dann hatte sich herausgestellt, dass der Zusammenhang ganz anders war.
»Sind Sie sicher, dass nicht doch in irgendeiner Weise ein finanzielles Motiv dahintersteckt – etwa in der Art, wie Sie im Fall Evelyn Carlisle feststellten?«, fragte ich.
»Nein, Sie können mir glauben, mein lieber Hastings, dass ich nach finanziellen Motiven immer zuerst suche.«
Das war zweifellos richtig. Poirot war, was Geld betraf, schon immer ein Zyniker gewesen.
Ich überlegte weiter. Vielleicht so etwas wie eine Vendetta? Das würde zu den Fakten schon eher passen. Aber auch hier schien jede Verbindung zu fehlen. Ich erinnerte mich, früher einmal von einer Reihe sinnloser Morde gelesen zu haben – des Rätsels Lösung war gewesen, dass die Opfer einer Jury angehört hatten und die Verbrechen von dem Mann begangen worden waren, den sie verurteilt hatten. Mir kam der Gedanke, dass es in diesem Fall ähnlich sein könnte. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich diesen Einfall für mich behielt. Es wäre ein stolzer Erfolg für mich gewesen, Poirot mit der fertigen Lösung zu überraschen.
»Und jetzt verraten Sie mir: Wer ist X?«, fragte ich stattdessen.
Zu meinem größten Ärger schüttelte Poirot entschieden den Kopf. »Das, mein Freund, werde ich nicht tun.«
»Unsinn! Warum denn nicht?«
Poirot zwinkerte mir zu. »Weil Sie, mon cher, noch immer derselbe alte Hastings sind. Ihr Mienenspiel verrät noch immer, was Sie denken. Und ich möchte nicht, dass Sie dasitzen und X mit offenem Mund anstarren, wobei Ihr Gesichtsausdruck deutlich sagt: Der – der da – ist ein Mörder.«
»Sie sollten mir schon zutrauen, dass ich mich notfalls ein wenig verstellen kann.«
»Wenn Sie versuchen, sich zu verstellen, wird es noch schlimmer. Nein, nein, mon ami, Sie und ich, wir müssen ganz unauffällig arbeiten. Und dann schlagen wir plötzlich zu.«
»Sie alter Dickkopf«, sagte ich. »Ich hätte gute Lust, Ihnen – «
Ich wurde von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. Poirot rief: »Herein!«, und meine Tochter Judith betrat das Zimmer.
Ich möchte Judith gern beschreiben, obwohl Beschreibungen noch nie meine Stärke gewesen sind.
Sie ist groß, sie trägt den Kopf hoch, sie hat gerade, dunkle Brauen und eine strenge, schöne Kinnpartie: Sie ist ernst und etwas spöttisch und hat für mein Gefühl immer etwas Tragisches an sich gehabt.
Judith trat nicht auf mich zu, um mich zu küssen – sie ist nicht der Typ. Sie lächelte mich nur an und sagte: »Hallo, Vater!«
Sie lächelte scheu und ein wenig verlegen, aber ich hatte trotz ihrer Zurückhaltung das Gefühl, dass sie sich über unser Wiedersehen freute.
»Na«, sagte ich,
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