Vorhang
Boyd Carrington, der mit der Miene eines gescholtenen kleinen Jungen herumlief.
Wie oft habe ich seither die Ereignisse dieses Tages Revue passieren lassen und versucht, mich an irgendeine Kleinigkeit zu erinnern, die ich etwa übersehen hatte, und mich bemüht, mir das Verhalten der einzelnen Personen genau ins Gedächtnis zu rufen – ob sie einen normalen Eindruck gemacht oder Erregung gezeigt hatten.
Ich will deshalb noch einmal genau niederschreiben, was mir von jedem Einzelnen in Erinnerung ist.
Boyd Carrington wirkte, wie gesagt, ziemlich schuldbewusst. Er schien zu glauben, dass er am Tag zuvor überschwänglich und egoistisch gehandelt hatte, weil er auf die zarte Gesundheit seiner Begleiterin nicht mehr Rücksicht genommen hatte. Er war ein- oder zweimal nach oben gegangen und hatte sich nach Mrs Franklins Befinden erkundigt, und Schwester Craven, die selbst nicht gerade in bester Laune war, hatte ihm ziemlich schroff Auskunft gegeben. Er war sogar ins Dorf gefahren und hatte eine Schachtel Pralinen gekauft. Diese war wieder heruntergeschickt worden mit der Bemerkung, dass »Mrs Franklin Pralinen nicht ausstehen« könne.
Mit unglücklicher Miene öffnete er daraufhin im Herrenzimmer die Schachtel, und Norton, ich und er selbst bedienten uns schweigend.
Wie mir jetzt einfällt, war Norton an jenem Morgen eindeutig mit seinen Gedanken woanders. Er war zerstreut und runzelte zuweilen die Stirn, als grübele er über etwas nach.
Er mochte Pralinen gern und nahm sie auf seine zerstreute Art reichlich.
Draußen war das Unwetter losgebrochen. Seit zehn Uhr morgens goss es in Strömen.
Die melancholische Stimmung, die sonst manchmal einem Regentag anhaftet, fehlte. Tatsächlich wurde der Regen von uns allen als Erleichterung empfunden.
Gegen Mittag wurde Poirot von Curtiss heruntergetragen und ins Wohnzimmer gebracht. Elizabeth Cole gesellte sich zu ihm und spielte ihm auf dem Klavier vor. Sie hatte einen angenehmen Anschlag und spielte Bach und Mozart, beides Lieblingskomponisten meines Freundes.
Franklin und Judith kamen gegen Viertel vor eins aus dem Gartenhaus herauf. Judith sah blass und erschöpft aus. Sie war sehr schweigsam, blickte wie im Traum umher und ging dann wieder. Franklin setzte sich zu uns. Er sah ebenfalls müde und abgespannt aus und machte einen nervösen Eindruck.
Wie ich mich erinnere, äußerte ich etwas in der Art, dass der Wetterumschwung eine Erleichterung sei, und er erwiderte rasch: »Ja, zuweilen ist ein Wechsel unbedingt nötig…«
Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass er nicht nur den Regen meinte. Unbeholfen wie immer stieß er gegen den Tisch, sodass die Schachtel Pralinen hinunterfiel. Mit der üblichen bestürzten Miene entschuldigte er sich – offenbar bei der Pralinenschachtel: »O Verzeihung.« Ich hätte es komisch finden müssen, aber irgendwie war es das nicht. Er bückte sich hastig und sammelte die hinuntergefallenen Pralinen auf.
Norton fragte ihn, ob er einen anstrengenden Vormittag gehabt habe.
Da lächelte er plötzlich – eifrig und jungenhaft.
»Nein, nein – ich habe nur gemerkt, dass ich auf dem falschen Weg war. Es gibt ein viel einfacheres Verfahren. Jetzt kann ich die Sache abkürzen.«
Er stand leicht schwankend da und schien in die Ferne zu blicken.
»Ja, eine Abkürzung. Das ist die beste Methode!«
Obwohl wir am Morgen alle planlos und nervös gewesen waren, wurde der Nachmittag unerwartet angenehm. Die Sonne kam zum Vorschein, aber die Temperatur blieb wohltuend frisch. Mrs Luttrell wurde heruntergebracht und durfte auf der Terrasse sitzen. Sie war in bester Verfassung – umgänglich und charmant, ohne die übliche Überschwänglichkeit und ohne beißende Bemerkungen im Hinterhalt. Sie neckte ihren Mann zwar, doch zeigte sie dabei eine gewisse Anhänglichkeit und Zärtlichkeit, und der strahlte übers ganze Gesicht. Es war wirklich erfreulich, die beiden in so gutem Einvernehmen zu erleben.
Poirot leistete sich ebenfalls einen Aufenthalt auf der Terrasse, und auch er war guter Laune. Wahrscheinlich gefiel es ihm, dass die Luttrells auf so freundlichem Fuß miteinander standen. Der Colonel wirkte um Jahre jünger. Er schien nicht so unschlüssig wie sonst zu sein und zupfte weniger häufig an seinem Bärtchen. Er schlug sogar eine Partie Bridge für den Abend vor.
»Daisy vermisst ihr Bridge«, meinte er.
»Es fehlt mir wirklich«, bestätigte Mrs Luttrell.
Norton fand, es könne sie vielleicht zu sehr ermüden.
»Ich werde
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