Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vorhang

Vorhang

Titel: Vorhang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
Vom Netzwerk:
zu sehen. Er ließ jedoch keinen Zweifel daran, dass ein Kollege hinzugezogen werden müsse, falls eine regelrechte Behandlung notwendig werde. Er könne den Fall nicht übernehmen.
    Franklin blieb lange in Poirots Zimmer.
    Als er endlich herauskam, fing ich ihn ab. Ich zog ihn in mein Zimmer und schloss die Tür.
    »Nun?«, fragte ich ängstlich.
    »Er ist ein sehr bemerkenswerter Mann«, erklärte Franklin nachdenklich.
    »Ja, natürlich!« Ich überging diese selbstverständliche Tatsache. »Aber was ist mit seiner Gesundheit?«
    »Ach so – seine Gesundheit.« Franklin schien überrascht, als hätte ich nach etwas völlig Nebensächlichem gefragt. »Seine Gesundheit ist natürlich im Eimer.«
    Ich fand seine Ausdrucksweise nicht gerade wissenschaftlich. Und doch hatte ich – von Judith – gehört, dass Franklin seinerzeit einer der begabtesten Studenten gewesen sei.
    »Wie schlecht geht es ihm?«, fragte ich besorgt.
    Er warf mir einen kurzen Blick zu. »Wollen Sie es wirklich wissen?«
    »Natürlich!«
    Was glaubte er eigentlich?
    Er zögerte nicht lange. »Die meisten Menschen wollen die Wahrheit nämlich nicht hören«, erklärte er. »Sie wollen beruhigt werden, sie wollen hoffen können, sie wollen Zuspruch. Selbstverständlich gibt es die erstaunlichsten Fälle von Genesung. Aber nicht in Poirots Fall!«
    »Soll das heißen…« Wieder schloss sich eine eisige Hand um mein Herz.
    Franklin nickte. »Ja, bei ihm ist es so weit. Es dauert wahrscheinlich nicht mehr lange. Ich würde es Ihnen nicht erzählen, wenn er es mir nicht ausdrücklich erlaubt hätte.«
    »Dann – weiß er es also.«
    »Er weiß es«, sagte Franklin. »Sein Herz kann jeden Moment aussetzen. Natürlich ist es nicht möglich, den genauen Zeitpunkt vorherzusagen.«
    Er schwieg eine Weile und sagte dann langsam: »Soviel ich verstanden habe, macht er sich Sorgen, ob er ein bestimmtes Vorhaben, das er begonnen hat, zu Ende führen kann. Wissen Sie Näheres darüber?«
    »Ja«, antwortete ich.
    Franklin warf mir einen interessierten Blick zu.
    »Er möchte diese Sache unbedingt erledigen.«
    »Aha!«
    Ich fragte mich, ob John Franklin ahnte, um was es sich handelte!
    »Ich hoffe, es gelingt ihm«, erklärte er. »Es scheint ihm viel zu bedeuten.« Er zögerte und fügte hinzu: »Er ist ein methodischer Geist.«
    Ich fragte besorgt: »Kann man nicht doch irgendetwas tun – irgendeine Art von Behandlung – «
    Er schüttelte den Kopf. »Nichts. Er hat Fläschchen mit Amylnitrit bei sich. Das kann er einatmen, wenn ein Herzanfall droht.« Dann sagte er etwas sehr Seltsames. »Er hat große Achtung vor dem menschlichen Leben, nicht wahr?«
    »Ich glaube, ja.«
    Wie oft hatte ich Poirot sagen hören: »Ich billige Mord nicht.« Diese nüchterne Bemerkung hatte mich immer sehr eigenartig berührt.
    »Das ist der Unterschied zwischen ihm und mir«, fuhr Franklin fort. »Ich habe keine.«
    Ich sah ihn neugierig an. Er nickte, wobei er kaum merklich lächelte.
    »Das ist wahr«, sagte er. »Da der Tod doch gewiss ist, spielt es kaum eine Rolle, ob er etwas früher oder später kommt.«
    »Weshalb sind Sie bei dieser Einstellung ausgerechnet Arzt geworden?«, fragte ich ihn befremdet.
    »Oh, mein Lieber, Arzt sein heißt nicht nur, das unausweichliche Ende hinauszuzögern. Es bedeutet sehr viel mehr – nämlich das Leben zu verbessern. Wenn ein gesunder Mensch stirbt, dann ist das – ziemlich egal. Wenn ein Schwachsinniger – ein Kretin – stirbt, dann ist das ein Glück. Aber wenn man entdeckt, dass man durch die Korrektur einer Schilddrüsenunterfunktion aus diesem Kretin einen normalen Menschen machen kann, dann ist das meiner Ansicht nach von größter Bedeutung.«
    Ich hörte interessiert zu. Ich würde zwar nicht gerade Dr. Franklin holen lassen, wenn ich die Grippe hätte, aber seine unbedingte Aufrichtigkeit und seine innere Kraft nötigten mir Respekt ab. Seit dem Tod seiner Frau hatte ich eine gewisse Veränderung an ihm wahrgenommen. Er hatte nur wenig Trauer im üblichen Sinn gezeigt. Er schien im Gegenteil lebhafter, weniger geistesabwesend und voll neuer Energie zu sein.
    »Sie und Judith sind sich wohl nicht sehr ähnlich?«, unterbrach er meine Gedanken:
    »Nein, ich glaube nicht.«
    »Ist sie ihrer Mutter nachgeraten?«
    Ich überlegte und schüttelte dann den Kopf. »Nein, eigentlich auch nicht. Meine Frau war ein fröhlicher Mensch. Sie nahm alles auf die leichte Schulter – und mich wollte sie in dieser Hinsicht auch

Weitere Kostenlose Bücher