Vorhang
meine?«
»Nicht so ganz.«
Nortons Stirn legte sich wieder in Falten. Er fuhr sich durchs Haar, sodass es auf die übliche komische Art zu Berge stand.
»Es ist ziemlich schwierig zu erklären. Ich meine Folgendes: Angenommen, Sie lesen zufällig einen Brief – den Sie irrtümlich geöffnet haben, oder so – einen Brief, der eigentlich an jemand anders adressiert ist und den Sie zu lesen beginnen, weil Sie glauben, er sei an Sie gerichtet. Und so erfahren Sie etwas, das eigentlich nicht für Sie bestimmt ist, was Ihnen erst danach klar wird. So etwas kann passieren, wissen Sie.«
»O ja, natürlich.«
»Nun, ich meine, was würden Sie in so einem Fall tun?«
Ich überlegte. »Wahrscheinlich würde ich zu der betreffenden Person gehen und sagen: ›Es tut mir schrecklich leid, aber ich habe diesen Brief versehentlich geöffnet.«‹
Norton seufzte. Er erklärte, dass dies nicht einfach sei. »Sie könnten etwas gelesen haben, das ziemlich peinlich ist, Hastings.«
»Peinlich für den richtigen Empfänger, meinen Sie? Dann würde ich wahrscheinlich so tun, als ob ich es nicht gelesen hätte – als ob ich den Irrtum noch rechtzeitig bemerkt hätte.«
»Ja«, sagte Norton nach einer Pause und schien noch nicht das Gefühl zu haben, dass dies eine befriedigende Lösung sei. »Ich wünschte, ich wüsste, was ich tun soll«, meinte er nachdenklich.
Ich sagte ihm, dass ich keine andere Möglichkeit sähe.
Norton fuhr mit gefurchter Stirn fort: »Wissen Sie, Hastings, die Sache ist noch komplizierter. Angenommen, das Gelesene ist – ist ziemlich wichtig, ich meine, für eine dritte Person.«
Ich verlor die Geduld. »Wirklich, Norton, ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen. Sie können nicht herumlaufen und ständig anderer Leute Briefe lesen, oder?«
»Nein, nein, natürlich nicht! Das habe ich nicht gemeint. Außerdem geht es auch nicht um einen Brief. Den habe ich nur als Beispiel angeführt, um Ihnen mein Problem klarzumachen. Natürlich sollte man alles, was man zufällig sieht oder hört oder liest, für sich behalten, es sei denn – «
»Es sei denn?«
»Es sei denn, es handelt sich um etwas, das man unbedingt zur Sprache bringen muss«, sagte Norton langsam.
Ich sah ihn mit plötzlich erwachtem Interesse an.
»Also gut, nehmen wir ein anderes Beispiel«, fuhr er fort. »Angenommen, Sie hätten etwas gesehen – zum Beispiel – durch ein Schlüsselloch – «
Bei dem Wort »Schlüsselloch« dachte ich sofort an Poirot.
»Was ich meine, ist Folgendes«, fuhr Norton fort. »Sie hätten einen ganz ehrbaren Grund – durch das Schlüsselloch zu schauen: Der Schlüssel könnte stecken geblieben sein – und Sie wollten die Ursache feststellen oder – oder so etwas Ähnliches. Jedenfalls – hätten Sie nie erwartet, das zu sehen, was Sie dann gesehen haben…«
Ich folgte seinen etwas wirren Ausführungen nicht weiter, denn mir war eine Erleuchtung gekommen. Ich erinnerte mich an den Nachmittag auf dem Grashügel, als Norton sein Fernglas vor die Augen gehoben hatte, um einen Buntspecht zu beobachten. Ich erinnerte mich an seine Verlegenheit und seine besorgten Versuche, mich daran zu hindern, ebenfalls durch das Glas zu schauen. Damals hatte ich sofort vermutet, dass er etwas gesehen hatte, das mit mir zu tun hatte – genauer gesagt, dass er Allerton und Judith gesehen hatte. Aber wenn das nun nicht zutraf? Wenn es etwas ganz anderes war? Ich hatte angenommen, dass es sich um Allerton und Judith handelte, weil ich zu der Zeit von der Vorstellung, dass die beiden etwas miteinander haben könnten, besessen war und an nichts anderes denken konnte.
Ich fragte unvermittelt: »Haben Sie es durch Ihr Fernglas beobachtet?«
Norton war verdutzt und zugleich erleichtert. »Wie haben Sie das erraten, Hastings?«
»Es geschah an jenem Tag, als Sie, Elizabeth Cole und ich auf dem Hügel waren, nicht wahr?«
»Ja, das stimmt.«
»Und Sie wollten es mich nicht sehen lassen!«
»Ja. Es war nicht – nun, es war nicht für unsere Augen bestimmt.«
»Was war es denn?«
Norton runzelte wieder die Stirn. »Das ist es ja gerade! Soll ich es sagen oder nicht? Ich meine, es sieht doch so aus, als hätte ich – als hätte ich spioniert. Ich habe etwas beobachtet, das nicht für meine Augen bestimmt war. Wenn auch unabsichtlich – ich hatte tatsächlich einen Buntspecht entdeckt, ein sehr hübsches Tier, und dann sah ich…«
Er schwieg. Ich war neugierig, aufs Höchste neugierig, doch ich respektierte
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