Vorhang
die Geschichte seines irischen Burschen zum Besten, der seinen Bruder erschoss – eine Geschichte, Hastings, die Norton vorher Boyd Carrington erzählte, weil er genau wusste, dass der alte Dummkopf sie bei der nächstbesten Gelegenheit sofort als seine eigene ausgeben würde. Sie sehen, der letzte Anstoß kommt nie von Norton. Mon Dieu, non!
Damit sind die Weichen gestellt. Eins war zum anderen gekommen und die Grenze des Erträglichen erreicht. Beleidigt in seiner Ehre als Gastgeber, bloßgestellt vor seinen Geschlechtsgenossen, sich windend bei dem Gedanken, dass die anderen wussten, wie hilflos er gegenüber den Bevormundungen seiner Frau war – und dann die Schlüsselworte der Erlösung: Jagdunfall – Jagdgewehr – ein Mann, der seinen Bruder erschießt – und plötzlich sieht er den Kopf seiner Frau… Ganz ungefährlich – ein Unfall… Ich werd ihnen zeigen… Ich werd’s ihr zeigen… Hol sie der Teufel! Ich wünschte, sie wäre tot… ich werde sie töten!«
Luttrell hat sie nicht umgebracht, Hastings. Ich glaube, dass er in dem Moment, als er schoss, unwillkürlich schlecht zielte, weil er sie nicht töten wollte. Und danach – war der Bann gebrochen. Sie war seine Frau, die Frau, die er trotz allem liebte.
Eins von Nortons Verbrechen, das ihm nicht ganz gelungen ist.
Ah – und erst sein nächster Versuch! Ist Ihnen klar, Hastings, dass Sie sein nächstes Opfer waren? Drehen Sie das Rad der Erinnerung zurück – rufen Sie sich alles wieder ins Gedächtnis! Mein ehrenhafter, gutmütiger Hastings! Er entdeckte all Ihre schwachen Seiten – ja, und auch Ihre guten und anständigen.
Allerton gehört zu der Sorte Männer, die Sie instinktiv ablehnen und fürchten. Er ist der Typ Mann, den man Ihrer Meinung nach vernichten sollte. Und alles, was Sie über ihn dachten und hörten, war richtig. Dann erzählt Norton Ihnen eine bestimmte Geschichte über ihn – eine vollkommen wahre Geschichte, was die Fakten angeht. (Wenn auch das betreffende Mädchen neurotisch und nicht gerade aus feiner Familie war.)
Dadurch wurden Ihre konventionellen und in gewisser Weise altmodischen Instinkte angesprochen. Dieser Mann ist der Bösewicht, der Verführer, der Mann, der Mädchen ruiniert und zum Selbstmord treibt! Norton veranlasst Boyd Carrington, Sie ebenfalls zu bearbeiten. Sie fühlen sich gedrängt, »mit Judith zu sprechen«. Wie vorauszusehen, reagiert Judith mit der schroffen Bemerkung, sie könne mit ihrem Leben machen, was sie wolle. Das lässt Sie das Schlimmste vermuten.
Begreifen Sie, was für Register Norton zieht? Da ist Ihre Liebe zu Ihrer Tochter. Dann das ausgeprägte, altmodische Verantwortungsgefühl, das ein Mann wie Sie für seine Kinder hat. Dazu die leichte Selbstüberschätzung, die Ihrem Wesen eigen ist: »Ich muss etwas tun. Alles hängt von mir ab.« Und Ihr Gefühl der Hilflosigkeit, weil Ihnen der kluge Rat Ihrer Frau fehlt. Außerdem Ihre Treue: »Ich darf sie nicht im Stich lassen!« Und auf der Minusseite haben wir Ihre Eitelkeit und dazu die Tatsache, dass Sie durch die Zusammenarbeit mit mir mit allen Tricks des Detektivberufs vertraut sind. Und schließlich das unbewusste Gefühl, das die meisten Männer gegenüber ihren Töchtern haben – unvernünftige, fast hassvolle Eifersucht auf den Mann, der ihnen die Tochter nimmt. Norton spielte auf Ihnen wie ein Klaviervirtuose auf dem Flügel, Hastings. Und Sie reagierten.
Sie urteilen zu leicht nach dem äußeren Schein. Das war schon immer Ihr Fehler. Sie haben ohne Weiteres angenommen, dass es Judith war, mit der sich Allerton im Sommerhaus unterhielt. Dabei haben Sie sie gar nicht gesehen, Sie haben sie nicht einmal sprechen gehört! Unverständlicherweise dachten Sie sogar am nächsten Morgen noch, dass es Judith gewesen sei. Sie freuten sich, weil sie »ihre Absicht geändert« hatte.
Wenn Sie sich die Mühe gemacht hätten, die Tatsachen zu prüfen, hätten Sie sofort entdecken müssen, dass nie davon die Rede war, dass Judith an jenem Tag nach London fuhr. Und Sie haben auch versäumt, eine andere, höchst naheliegende Schlussfolgerung zu ziehen. Es gab jemand anderen, der an dem Tag verreisen wollte – und der wütend darüber war, dass er das nicht konnte. Schwester Craven! Allerton ist nicht der Mann, der sich damit begnügt, nur einer Frau den Hof zu machen! Seine Affäre mit Schwester Craven war schon viel weiter gediehen als der kleine Flirt, den er mit Judith hatte.
Wieder einmal führte Norton Regie…
Sie
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