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Vorhang

Vorhang

Titel: Vorhang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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ertragen konnte. Ich glaube, das war ein Erlebnis, das bei ihm einen tiefen Eindruck hinterlassen hat. Er verabscheute Blut und Gewalt, worunter sein Ansehen litt. Ich nehme an, dass er unbewusst versuchte, diese Schwäche durch Rücksichtslosigkeit und Gemeinheit wettzumachen.
    Ich könnte mir vorstellen, dass er schon in ziemlich jungen Jahren seine Fähigkeit, andere zu beeinflussen, entdeckte. Er ist ein guter Zuhörer und hat eine ruhige, sympathische Art. Die Leute mochten ihn, ohne ihn jedoch sehr zu beachten. Dies ärgerte ihn zuerst – und dann machte er es sich zunutze. Er entdeckte, wie lächerlich einfach es war, seine Mitmenschen durch ein geschicktes Wort oder den richtigen Reiz zu beeinflussen. Die einzige Bedingung war, dass man sie verstand – dass man ihre Gedanken und geheimen Reaktionen und Wünsche ergründete.
    Sie begreifen sicherlich, Hastings, dass eine solche Entdeckung ein Machtgefühl hervorrufen kann! Da war er, Stephen Norton, den alle mochten und zugleich verachteten, und konnte die Leute dazu veranlassen, Dinge zu tun, die sie nicht tun wollten – oder von denen sie dachten, dass sie sie nicht tun wollten.
    Ich sehe ihn vor mir, wie er dieses Hobby ausbaut und allmählich einen morbiden Geschmack an Gewalttätigkeit aus zweiter Hand entwickelt, einer Gewalttätigkeit, zu der ihm die physische Robustheit fehlte und deren Mangel ihm Spott eingetragen hatte.
    Ja, sein Hobby gefällt ihm immer mehr, bis es zur Leidenschaft, zur Notwendigkeit wird. Es war eine Droge, Hastings – eine Droge, die genau wie Opium oder Kokain süchtig machen kann.
    Norton, der sanfte, naturliebende Mann, war ein geheimer Sadist. Er war süchtig danach, Menschen zu quälen und geistig zu foltern. Dieses Phänomen ist in den letzten Jahren überall in der Welt wie eine Seuche aufgetreten – L’appétit vient en mangeant.
    Zwei Triebe wurden befriedigt, der sadistische und der Machttrieb. Er, Norton, hatte Gewalt über Leben und Tod.
    Wie alle Drogensüchtigen war er auf ständigen Nachschub angewiesen. Er fand ein Opfer nach dem anderen. Ohne Zweifel waren es mehr als die fünf Fälle, die mir bekannt sind. Jedes Mal spielte er die gleiche Rolle. Er kannte Etherington. Er verbrachte einen Sommer in dem Dorf, in dem Riggs lebte, und trank mit ihm im Dorfgasthaus. Auf einer Kreuzfahrt lernte er Freda Clay kennen und bestärkte sie in dem Gefühl, dass der Tod ihrer alten Tante eine gute Sache sei – eine Erlösung für die Tante und ein von finanziellen Sorgen freies und schönes Leben für sie selbst. Er war mit den Litchfields befreundet, und bei der Unterhaltung mit ihm sah sich Margaret Litchfield als Heldin, die ihre Schwestern aus ihrer lebenslangen Gefangenschaft befreite. Ich glaube nicht, Hastings, dass ohne Nortons Einfluss auch nur einer dieser Menschen getan hätte, was er tat.
    Und jetzt zu den Ereignissen auf Styles. Ich war Norton bereits seit einiger Zeit auf der Spur. Als er mit den Franklins bekannt wurde, witterte ich sofort Gefahr. Sie müssen verstehen, dass selbst Norton etwas brauchte, wo er einhaken konnte. Wo kein Samen ist, kann man nichts zum Wachsen bringen. Meiner Ansicht nach hat zum Beispiel in Othello schon immer die – wahrscheinlich richtige – Überzeugung geschlummert, dass Desdemonas Liebe zu ihm die leidenschaftliche, unausgewogene Heldenverehrung eines jungen Mädchens für einen berühmten Krieger und nicht die reife Liebe einer Frau zu dem Mann Othello war. Er ahnte vielleicht, dass Cassio der richtige Gefährte gewesen wäre und sie dies mit der Zeit erkennen würde.
    Die Franklins stellten für Norton ein dankbares Objekt dar. Was für Möglichkeiten boten sich ihm hier! Sie haben inzwischen zweifellos gemerkt, Hastings, dass Franklin und Judith sich liebten – was jeder, der Augen im Kopf hatte, schon längst wusste. Seine Schroffheit, seine Gewohnheit, sie nie anzusehen, und sein Verzicht auf jede Höflichkeit hätten Ihnen verraten müssen, dass er bis über beide Ohren in sie verliebt war. Aber Franklin ist ein Mann von großer Charakterstärke und Rechtschaffenheit. Seine Äußerungen sind zwar von brutaler Nüchternheit, aber er ist ein Mensch mit festen Wertvorstellungen. Seiner Meinung nach bleibt ein Mann bei der Frau, die er einmal gewählt hat.
    Sogar Sie hätten merken müssen, dass Judith eine tiefe und unglückliche Zuneigung zu ihm gefasst hatte. Als Sie sie im Rosengarten fanden, dachte sie, Sie hätten diese Tatsache erkannt. Daher ihr wütender

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