Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vorhang

Vorhang

Titel: Vorhang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
Vom Netzwerk:
Es ist eine wunderbare Studie über psychologische Beeinflussung.
    Nun müssen Sie sich das eine vergegenwärtigen, Hastings: Jeder von uns ist ein potenzieller Mörder. In jedem von uns erwacht von Zeit zu Zeit der Wunsch zu töten – wenn auch nicht der Wille. Wie oft hat man nicht schon selbst gesagt oder andere sagen hören: »Sie hat mich so geärgert, dass ich sie am liebsten umgebracht hätte. Ich hatte so eine Wut, dass ich ihn hätte erschlagen können!« Alle diese Äußerungen sind wörtlich zu nehmen. Der Verstand ist in solchen Augenblicken vollkommen klar. Man möchte den und den umbringen, aber man tut es nicht. Der Wille muss den Wunsch erst genehmigen. Bei kleinen Kindern funktioniert diese Bremse noch unvollständig. Ich kannte mal ein Kind, das sich über sein Kätzchen ärgerte und zu ihm sagte: »Sei still, oder ich schlag dich auf den Kopf und du bist tot!« Das Kind machte seine Drohung wahr – um einen Augenblick später mit Entsetzen festzustellen, dass das Kätzchen nicht wieder zum Leben zu erwecken war. Denn, sehen Sie, in Wirklichkeit liebte das Kind sein Kätzchen sehr. Wir sind also allesamt potenzielle Mörder. Die Kunst von X bestand darin, nicht den Wunsch nach Mord zu wecken, sondern die normalen Hemmungen abzubauen. Es war eine Kunst, in der er sich durch lange Übung vervollkommnet hatte. X kannte das richtige Wort, den richtigen Satz und sogar den Tonfall, mit denen er einen Menschen beeinflussen und auf einen schwachen Punkt Druck ausüben konnte. So was ist möglich, und zwar ohne dass das Opfer je Verdacht schöpft. Es war nicht Hypnose – Hypnose hätte keinen Erfolg gehabt. Es war eine viel heimtückischere, eine vernichtende Methode! Sie aktivierte Kräfte, die einen Bruch nicht kitteten, sondern erweiterten. Sie rief das Beste in einem Menschen hervor, um es mit dem Bösen in ihm zu verbünden.
    Sie müssten es wissen, Hastings, denn Ihnen ist es auch passiert…
    Jetzt verstehen Sie vielleicht allmählich, was einige meiner Bemerkungen, die Sie ärgerten und verwirrten, in Wirklichkeit zu bedeuten hatten. Wenn ich davon sprach, dass ein Verbrechen geschehen würde, bezog ich mich nicht immer auf das gleiche Verbrechen. Ich erzählte Ihnen, dass ich zu einem bestimmten Zweck auf Styles sei. Ich sei gekommen, sagte ich, weil ein Verbrechen verübt werden würde. Sie wunderten sich über meine Sicherheit in diesem Punkt. Doch diese Sicherheit hatte ihren Grund – denn, sehen Sie, das Verbrechen sollte von mir selbst begangen werden…
    Ja, mein Freund – es ist seltsam – und lächerlich – und schrecklich! Ich, der ich Mord nicht billige, ich, der ich das menschliche Leben achte – ich habe meine Laufbahn mit einem Mord beendet! Vielleicht musste ich in diesen furchtbaren Zwiespalt geraten, weil ich zu selbstgerecht, zu sehr von der Richtigkeit meines Handelns überzeugt war. Sehen Sie, Hastings, die Sache hat nämlich zwei Seiten. Es ist meine Lebensaufgabe, Unschuldige zu schützen – Mord zu verhindern –, und dies – dies war nun die einzige Möglichkeit, das zu tun. Sie täuschen sich, wenn Sie glauben, X hätte vom Gesetz belangt werden können. Er war sicher. So viel ich auch gegrübelt habe, es war die einzige Art und Weise, wie man ihm das Handwerk legen konnte.
    Und doch, mein Freund, zögerte ich. Ich sah, was zu tun war, aber ich konnte es nicht über mich bringen. Wie Hamlet schob ich den Schreckenstag immer wieder hinaus… Und dann passierte der nächste Mordversuch – Mrs Luttrells Unfall.
    Ich war neugierig, Hastings, ob Ihr bekannter Sinn für das Offensichtliche sich auch hier bewähren würde. Er hat sich bewährt! Ihre erste Reaktion war ein unbestimmter Verdacht gegen Norton. Und Sie hatten damit ganz recht. Norton war der Mann. Sie hatten keinen Grund für Ihre Annahme – außer der vollkommen richtigen, wenn auch halbherzig geäußerten Feststellung, dass er unauffällig sei. Damit sind Sie, glaube ich, der Wahrheit sehr nahe gekommen.
    Ich habe seine Lebensgeschichte aufmerksam studiert. Er war der einzige Sohn einer herrischen und rechthaberischen Frau. Er scheint nie in seinem Leben über die Gabe verfügt zu haben, sich zu behaupten oder sich bei anderen Menschen durchzusetzen. Er hat immer leicht gehinkt und konnte in der Schule nie am Sport teilnehmen.
    Äußerst bezeichnend war eine Bemerkung von ihm, die Sie mir berichteten, nämlich, dass er in der Schule ausgelacht worden sei, weil er den Anblick eines toten Kaninchens nicht

Weitere Kostenlose Bücher