Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
aber immer kleineren Kreis herumdachten. Dieser Mann aber, mit seinen Sommeraugen und der ewig unentschlossenen Frisur, dachte immer gleich einen ganzen Horizont, egal, in welche Richtung man sah. Er konnte sich ohne Anlauf in Aufregung reden und dabei gleichzeitig überaus reizend sein. Aber das Wichtigste war, dass er Marlene sah, auf ihre Worte wartete, ihren Blick suchte, sich ihre Kleinigkeiten merkte, und das alles, ohne dass es ihr jemals vorkam wie in einem ihrer Frauenromane und ohne sie in eine ihrer alten Ecken zu drängen. Seine Woche war eine Woche, in der sie mehr lachte, trank, stolperte und atmete als in ihrem ganzen Leben davor. Es war doch erstaunlich, dachte sie abends in ihrem Bett und nichts anderes.
Am letzten Tag vor seiner Abreise kam Max Honigbrod noch mit in ihr kleines Zimmer, er war aufgekratzt, wie Menschen es sind, wenn sie nicht wissen, wie sie sich verabschieden sollen. Es war dunkel, und niemand machte Licht. Er rollte sich am Fußende ihres Bettes zusammen, und sie winkelte die Beine an, damit er ein wenig mehr Platz hatte. Dann erzählte er ins Dunkle von seinem Sohn, denn er hatte einen Sohn. Aber der Sohn hatte keine Mutter, sie war bei der Geburt gestorben, und nach einer Sekunde sehr dunkler Nacht sagte Max Honigbrod dazu nur: »Interessant, nicht wahr, es sterben immer noch Frauen bei der Geburt, in jedem Land, und es wird auch immer so sein.«
»Oh«, sagte Marlene John, weil sie in diesem Moment erkannte, dass in ihrem Leben doch noch etwas passieren würde. Eine Kleinigkeit nur, aber immerhin. Und dann schliefen sie, er eingerollt am Fußende und sie mit angewinkelten Beinen, damit er ein bisschen mehr Platz hatte.
Die allerschlechteste Rede des Max H.
Wie ich vorhergesagt hatte, erschien die Lene-Mama zum ersten Stangentag des Jahres wieder auf dem Hof. Sie kam schon am Tag davor, fuhr wie immer in Schrittgeschwindigkeit auf ihrem Motorrad über den kleinen Feldweg, parkte unter dem Scheunenfenster und klopfte vorsichtig an unsere Tür, was niemals jemand außer mir hören konnte, so klein war das Geräusch. Deswegen war es auch immer an mir, sie auf Pildau willkommen zu heißen. Sie gab mir dabei die Hand, und das sah bei ihr aus, als wäre sie schon mit ausgestrecktem Arm vor der Tür gestanden, lächelte ganz vorsichtig, und ich musste sie hineinzerren und ihr das Zimmer zeigen, als wäre es das erste Mal. Es war ein Ritual, das ich damals für ihr Spiel hielt und erst heute als das erkenne, was es eigentlich war: die Schüchternheit der Lene-Mama, die immer noch jederzeit damit rechnete, dass niemand ihren Ball fangen wollte. Diesmal zog ich sie aber noch eine Tür weiter und ans Ende des Ganges, stürmte mit ihr ohne Abwarten in Ladas Zimmer, denn eine solche Sensation hatten wir sonst nicht zu bieten.
»Wir haben ein neues Kind«, sagte ich wie ein Zirkusdirektor. Lada saß auf dem Fensterbrett und ließ die Beine in den Hof baumeln, was für ein kleines Mädchen womöglich ganz und gar nicht angebracht war, aber was soll ich heute dazu anderes sagen, als dass sie es eben so hielt und nie etwas passiert ist. Es war in diesen ersten warmen Tagen ihre Art, die Stunden bis in den frühen Nachmittag zu verbringen. Während ich über meine Ländereien schlenderte und die Mutproben machte, saß sie oben, baumelte und sah mir schweigend zu oder nicht.
Ich weiß nicht mehr genau, was ich erwartet hatte, aber ich weiß, dass etwas ganz anderes passierte. Die Lene-Mama erschrak, das merkte ich an ihrer Hand, wich zwei Schritte zurück, während Lada erfreut quiekte, mit einem Satz vom Fensterbrett auf ihr sehr langes Bett hüpfte und von dort zur Lene-Mama, die sich in einer Rückwärtsbewegung zur Treppe befand, aber gleich darauf behindert wurde, weil sich Lada an ihr Bein klammerte und »Bleib da!« rief. Das wäre nicht so überwältigend gewesen, wenn dieses »Bleib da!« nicht die ersten Worte von Lada in Pildau gewesen wären. So stand die hilflose Marlene auf der obersten Treppenstufe, hielt halb die Balance und halb das klammernde Kind, das seinen Worten Nachdruck verleihen wollte, und in dieser Umarmung fanden sie der Großvater und mein Vater, die beide ganz gegen jedes Gesetz aus ihren Welten gekommen waren und nun mit mir Zeugen einer weiblichen Solidaritätsveranstaltung wurden. Lada, die fröhlich und vehement »Bleib da!« rufend um das Bein von Marlene John tanzte, welche ungelenk nach dem roten Wellenhaar griff und gleichzeitig bemüht war, so zu
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