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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Scharnigg
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tun, als wäre doch gar nichts passiert. Wir drei Honigbrod-Männer sahen diesen Tanz in der schwachen Sonne der ungeputzten Fenster, in der um die beiden Frauen noch hundertfach anderes tanzte, und waren, zumindest kann ich das für mich sagen, überwältigt von der Schönheit, die einfach so zu uns gefunden hatte.
    Zum Abend waren die Dinge wohl insoweit geklärt, als die Lene-Mama wusste, dass Max Honigbrod nicht noch eine Halbwaise unterschlagen hatte, sondern eine Vollwaise frisch dazugestoßen war. Bedeutsamer aber war der Umstand, dass Lada gesprochen hatte. In den zwei Monaten, die sie nun bei uns war, hatten sich die Opis in unterschiedlichen Deutungen ihrer Stummheit ergangen. Ich erinnere mich davon nur an die meines Vaters, der davon ausging, dass Lada unsere Sprache nicht oder nur schlecht verstand und sich schlicht nicht traute, etwas in ihrer Sprache zu uns zu sagen. Sprachlosigkeit war ein Befund, der ihm besonders grausam vorgekommen sein muss, jedenfalls ging es immer nur darum und nie um die Frage, ob Lada vielleicht innere Verletzungen, psychische Verrenkungen oder andere bleibende Schäden erlitten hatte. Nun aber war die Sache geklärt, und ohne die Lene-Mama wäre es vielleicht bedeutend später dazu gekommen. Sie saß auf ihrem Stuhl am Tisch, hatte schon wieder Schüsseln abgedeckt und einen kleinen Kuchen mitgebracht, und die sprechende Lada wich ihr in den letzten Stunden dieses Tages nicht von der Seite. Mein Vater im grünen Pullover beäugte diese Anhänglichkeit noch mit einem Stirnrunzeln, der Großvater aber lächelte schon leise, während er nach den Anweisungen der Lene-Mama den Ofen unter ihren Töpfen auf Temperatur kommen ließ. Die beiden hatten in der Küche ein Spiel miteinander, bei dem Marlene die Bestimmerin war und der Großvater wie ein Page um sie herumwieselte und alles erledigte. Zumindest dachte ich, dass es ein Spiel sein müsste, und ziehe es heute vor, bei dieser Erinnerung zu bleiben. Es ist überhaupt gut, sich weiterhin zu bemühen, die Dinge so zu sehen, wie man sie damals gesehen hat. Später eine Neuordnung dieser Zeit und all ihrer Wunder vorzunehmen führt meistens zu nichts als zu einer Menge dunkler Ahnungen und Trauer über vertane Gelegenheiten. So habe ich, wenn ich es recht überlege, der Lene-Mama nie gesagt, wie sehr ich es mochte, wenn sie unsere immer gleiche Tischrunde veränderte und die Opis sich wegen ihr anders benahmen. Mein Vater kam früher aus dem Stall, redete weniger, aber alles an ihm war wacher und fröhlicher, es war, als wäre auch er bei uns zu Besuch, manchmal tat er ganz überrascht von irgendeiner Sache, die schon immer so gewesen war, öffnete ganz verzaubert ein Fenster oder strich in meinen langen Haaren herum, nur um der Lene gleich im Anschluss davon zu erzählen. Der Großvater schien, während sie spielten, wieder besser zu hören, seine Bewegungen waren geschmeidiger, und manchmal trug er zum Abendessen sogar ein rotes Tüchlein um den Hals, über das ich gar nicht genug staunen konnte.
    Manche Nacht hörte ich die Lene-Mama aus ihrem Zimmer schleichen, sie war sehr leise, aber ich war, wie gesagt, auf schnelles Aufwachen beim ersten Ton vorbereitet. Und sie kannte nicht die Stellen, auf die man treten musste, damit die Stufen nicht knarrten. Immer die vierte von oben verriet sie, mit einem hellen Knirschen. Mein Vater schlief in einem Zimmer rechts neben der Küche, der Großvater in seiner Kammer links. Es war schwer zu hören, aber ihre leichten Schritte entfernten sich öfter nach rechts und nur gelegentlich nach links. Ich dachte mir nichts anderes, als wie fein es für die Opis war, von der Lene-Mama noch mal besucht zu werden, und ich ziehe es heute wieder vor, nichts anderes als das zu denken. Weil es die Wahrheit ist.
     
    An jenem Abend saßen Lada und Lene nebeneinander, der Nudeltopf ließ eine große Dampfwolke in den Raum, als sie den Deckel hob, und bevor die ganze Küche für einen Moment im warmen Dampf aufging, sah ich drei Männer im Angesicht der feinsten Gesellschaft, auf die sie je hoffen konnten. Später, viel später, sagte mein Vater einmal die Sätze: »Jasper, ich muss dir leider sagen, Frauen halten es auf Pildau nicht sehr lange aus, das war schon immer so. Es ist eine bedauerliche Eigenheit dieses Ortes, die ich gern gegen die verhältnismäßig hohe Papstdichte eintauschen würde, wenn ich könnte.« Aber noch war es nicht so weit, und ich behalte mir vor, die Erinnerung an den ersten

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