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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Scharnigg
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Sommer mit Lada so lange auszukosten wie möglich.
    Nun, da sie sprach, konnten wir nicht umhin, Lada nach ihrer Erinnerung an den Unfall zu befragen, auch wenn ich diese Notwendigkeit damals bestimmt noch nicht so klar sah wie die anderen. Aber ich merkte sogar meinem Vater an, wie er davor scheute, auch wenn er immer wieder fasziniert auf diesen kleinen Mund starrte. Lada hatte bisher noch zwei andere Sachen gesagt, und zwar »Mehr Soße!« und »Uh, stink«, als sich nämlich der Großvater an seiner Pfeifentasche zu schaffen machte. Ich fand beide Äußerungen sensationell. Er war mit seiner Pfeife sogleich vor die Tür gegangen, was er eigentlich nie tat. Lada saß hinter ihrem leeren Teller, zupfte gelegentlich der Lene-Mama am Kleid und sah zufrieden wippend in der Küche herum, als mein Vater schließlich doch anhob.
    »Liebes Mädchen Lada«, er musste erst mal jedes Wort gegen seine Wuchsrichtung aufbürsten, »wir, ehm, die Hofstatt Pildau, heißen dich, wie du zweifellos längst gemerkt hast, herzlich willkommen. Egal, was geschieht, du wirst hier immer ein
shelter
, nicht wahr, haben.« Das war bis jetzt seine allerschlechteste Rede, wie ich nicht umhinkonnte zu bemerken. »Die besonderen Umstände, die dich zu uns gebracht haben, sind dir bestimmt nicht entgangen, es ist nur verständlich, wenn du aufgrund der Vorfälle, ehm, eigene Vorstellungen von deinem weiteren Verbleib oder deiner baldigen Rückkehr in dein altes, ah, das Leben nimmt ja kuriose Wendungen, und das ist, wenn man so möchte, das einzig Zuverlässige daran, deswegen, jedenfalls, wäre es uns allen sehr wichtig, Genaueres über deine Herkunft, ehm, zu erfahren. Wir Honigbrods, musst du wissen, sind hier übrigens auch nicht heimisch, insofern besteht da überhaupt keine Schwierigkeit.«
    Schluss. Lene hatte verlegen angefangen, die Teller abzuräumen, während Lada meinen Vater aufmerksam, aber ohne einen Hauch der Erkenntnis ansah. Sie konnte das sehr lange. Max Honigbrod irrte so eine Zeit hilflos in ihrem Schweigen herum. Schließlich besserte er nach: »Was ich meinte, vielleicht muss ich das an dieser Stelle noch mal, an was kannst du dich erinnern, was kannst du uns berichten von, ehm, früher?«
    Lada nickte jetzt mit einer erwachsenen Miene, verdrehte die Augen weit nach hinten oben bis in die früheste Erinnerung und sagte dann fröhlich: »Dein Huckepack.« Sie sauste dazu um den Tisch, warf sich auf seinen Rücken und verpasste damit, wie erleichtert mein Vater in die Runde blickte.
    Lene aber hatte erschrocken die Hand vor dem Mund und pflückte Lada vorsichtig von der Rückwand des Max Honigbrod. Sie kniete auf Augenhöhe, hielt den kleinen Kopf zart in beiden Händen und sagte sehr leise: »Woher kommst du, kleine Lada? Und wie heißt du wirklich?«
    Ich kannte Ladas Blick, es war der gleiche, mit dem sie sich den Reißnagel in den Finger gebohrt hatte. So sah sie zurück, und dann kam eine große Einzelträne aus ihrem rechten Auge, ich habe es bis heute genau vor mir, die Schwerkraft zog daraus ein feuchtes Lot auf Ladas Wange, als wäre dort eine traurige Schnecke gekrochen. Sie schüttelte langsam das Wellenhaar, dann immer schneller. Kein Name, kein Woher. Die Lene-Mama flüsterte ihr etwas ins Ohr, aber es konnte das Schütteln nicht beruhigen. In den nächsten Tagen versuchten mein Vater und Lene immer wieder und wie nebenbei, Lada an früher zu erinnern, aber sie bekamen das immer gleiche Ergebnis. Lada dachte nach, weinte eine oder zwei Tränen und machte sich los.
    Ich verstand nicht ganz, was ihnen an dieser Fragerei wichtig war. Mein Vater hatte doch erklärt, wie Lada zu uns gekommen war, nämlich mit dem Auto. Ohne das Auto wäre sie nicht Lada und nicht bei uns, das Auto ist verbrannt, die anderen waren verhimmelt, mehr gab es nicht zu sagen. Nur der Großvater verhielt sich in meinen Augen vernünftig, er fragte nichts und rauchte fortan seine Abendpfeife vor der Tür. Ich gewöhnte mir an, ihn dabei zu begleiten, und so saßen wir für eine halbe Stunde miteinander im Dunkeln, sahen in die Sterne über Pildau, und ich erfuhr nach und nach ein paar Dinge über Ludwig Honigbrod, die ich noch nie gehört hatte. Und über Kopernikus und Newton, Keppler und Hubble und all die anderen, die in ihren Leben so viele Nächte wach geblieben waren.

Ludwig Honigbrod und die erste Fehlentscheidung
    Wie Ludwig Honigbrod nach Pildau kam, das ist eine Geschichte, die mit einem Satz erzählt ist. Seine Eltern schickten

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