Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
Typen aus dem Labor, die sie zum Essen einluden und die Marlene dann ohne Umstände mit in ihr Bett nahm, weil sie die Aussicht auf weitere Essenseinladungen mit weiterer Unterhaltung so müde machte. Sie waren erwachsen, jeder konnte sich ausrechnen, was diese Essen zum Zweck hatten, und so ließ sie es geschehen und fand es nur interessant, zu sehen, wie glücklich die Jungs darüber waren. Aber sie nahm nie einen zweimal mit und registrierte durchaus, dass es niemals die strahlenden Männer waren, die sie fragten, sondern die kleinen, leisen und schiefen, die immer zwei Schritte dahinter kamen. Mit der Mutter schrieb sie Briefe, von denen sie gleich drei auf Vorrat ausfertigte und für die sie ein bisschen dazuerfand.
Sie traf Claire im zweiten Jahr wieder, und die nahm sie fortan manchmal abends mit, meistens zum Bingo in den Pub. Claires Freunde redeten viel über Musik und Kunst, und Marlene saß still dabei, weil sie mit beidem nichts anfangen konnte. Eines Tages kam Claire mit roten Augen an ihre Haustür und sagte, sie sei schwanger. Marlene machte Tee und hörte sich alles an und sagte nicht viel, weil sie Angst hatte, es wäre das Falsche. Sie betrachtete nur aus den Augenwinkeln, wie das Unglück bei jemandem aussah, der so fröhlich und ausgelassen war wie Claire, und fand, es wäre immer noch kein Vergleich. Später erzählte sie zum ersten Mal von Robert und dem Motorrad, aber alles klang in dieser Nacherzählung so unsinnig und dumm, dass sie mitten in der Geschichte aufhörte.
Etwas später hatte Claire ihre verschwenderische Fröhlichkeit wieder und brachte an einem milden Mittwoch im Dezember einen Sohn zur Welt. Mit dem Vater hatte sie ein kleines Haus ganz in der Nähe von Marlenes Wohnung bezogen, und Marlene passte nun oft auf das Kind auf, weil sie immer zu Hause war und nie etwas dagegen sagte. Bei dem Kind hatte sie fürchterliche Sorge, etwas falsch zu machen, und träumte oft davon, wie sie den blondgelockten Jungen auf den Badezimmerboden fallen ließ und die Eltern sie anbrüllten. Aber es passierte nie etwas, nur ging Marlene nicht mehr in den Pub. Sie saß stattdessen in der fremden Wohnung, hörte ängstlich auf die Geräusche des Kindes und wagte nicht, Claire von dieser Angst zu erzählen, so fröhlich war sie, wenn sie nach Hause kamen und Marlene mit Dank und Umarmungen überschütteten, und das war, dachte Marlene, in diesen Zeiten besser als nichts. Fast zwei Jahre ging das so, und als der kleine Junge gerade Lene sagen konnte, zogen Claire und ihr Mann nach Sussex, weil sie etwas geerbt hatten.
Marlene kehrte an den Abenden zurück in ihr Zimmer und zu ihren Büchern, aber die polternden Jungs waren nicht mehr da, und die Japanerin hatte ohne ein Wort ihr Studium beendet und war verschwunden. Jetzt war sie es, die frühmorgens in der Küche rumorte, sie kochte zweimal, das reichte ihr für die Woche, ihr Körper war längst daran gewöhnt, sie musste sich nur daran erinnern, überhaupt zu essen. Die schnell wechselnden neuen Mitbewohner behandelten Marlene wie einen Hausgeist, und ein bisschen kam sie sich selbst so vor, in ihren Laborkitteln und mit dem ewigen Tee. Den Doktortitel hatte sie ohne größeres Aufhebens erhalten, an jenem Abend telefonierte sie mit ihrer Mutter, die weinte und fragte, warum Marlene in vier Jahren nicht nach Hause gekommen wäre und ob sie überhaupt noch ihre Tochter sei. Darüber hatte sie nie nachgedacht. Man bot ihr bald danach eine Postdoktorandenstelle an, und an ihrem dreißigsten Geburtstag zupfte sich Marlene genussvoll die linken Armhaare aus und musste an den kleinen Jungen denken, der ihren Namen sagen konnte. Sie war sich längst sicher, dass sie allein bleiben würde, einfach weil es auch Menschen geben musste, die allein waren. Sie erwartete nichts und rechnete nur noch gelegentlich. Vierzig Sommer noch, bei etwas unterdurchschnittlicher Lebenserwartung, die ihr durchaus gerechtfertigt schien angesichts der Dinge, mit denen sie im Labor hantierte, und ihrer leichten Unterernährung, vierzig Sommer noch, dann wäre sie durch, und bis es so weit war, konnte sie sich die Hände rot schrubben und zupfen und irgendwo in diesem unübersichtlichen Universitätsbetrieb eine Stelle finden, an der sie niemanden störte. Ganz sicher war sich Marlene nicht, woran alles lag und welche Weiche bei ihr anders gestellt worden war als bei den anderen, aber sie dachte nur noch sehr selten darüber nach. Es musste wohl einfach an ihr liegen oder
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