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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Scharnigg
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ihn hin. Es war kurz vor dem ersten Krieg und er mit zwölf Jahren ein schwächliches Kind. Es gab in ihrer Straße mehrere Familien, die Kinder für eine Zeit aufs Land schickten, in der Hoffnung, sie würden im Herbst weniger empfindsam zurückkehren. Die Bäuerinnen verdienten etwas mit den Stadtkindern und behandelten sie doch nicht anders als ihre Hühner, scheuchten sie tagsüber in den Garten und warfen ihnen nur gelegentlich etwas hin. Die Bauern schickten sie immer nur in den Stall. Ludwig fuhr Eisenbahn, einen ganzen Tag lang, ein Mann saß in seinem Abteil, der sagen konnte, an welchem Bahnhof der Kaiser schon einmal ausgestiegen war.
    Die Pildauer Bauersleute waren alt und kinderlos, es gab einen Knecht, der kein Wort mit ihm sprach, obwohl sie in derselben Kammer schlafen sollten. In dem Zimmer am Ende des Ganges, in dem ein ausgeblichenes Marienbild hing, hauste eine Großmutter, die war abergläubisch. In der Nacht von Ludwigs Ankunft wurde eine der fünf Kühe des Hofes krank, und als er am nächsten Morgen in die Küche schlich, sagten die Menschen dort, ein Unglück sei geschehen und er wäre der Grund. Die Alte gab keine Ruhe, bis der Bauer am nächsten Sonntag die Hofstange verlängern ließ, um das Unglück abzuwenden. Es war kein Fest. Der Bauer polterte, weil er Knechte holen lassen musste und ihnen etwas geben dafür, und schon damals kam doch keiner gern bis nach Pildau. Die Alte oben heulte höhnisch. Im Dorf fand der Knecht nur zwei Helfer, aber zu viert war die Stange nicht zu heben. Die kleine Magd sollte mit angreifen, aber sie fürchtete sich und kam nicht aus der Kammer. Also ließ der Bauer Keile schnitzen, und zu viert rissen die Männer die Stange dann eine Winzigkeit hinan, worauf die Bäuerin den Keil einsetzte. In den kleinen Spalt schlugen sie Stangen als Hebel, alle dampften vor Anstrengung. Der neue Stift, der vorgesehen war, wurde noch mal entzweit, auch wenn die Alte sich schimpfend in die Felder verzog, als sie das kümmerliche Opfer sah. Niemand hob doch eine Stange für nur einen halben Meter!
    Es dauerte den ganzen Vormittag, bis das neue Holz angesetzt war, und dann passierte etwas. Der Knecht, mit dem Ludwig in einer Kammer liegen musste, hatte den Klebesud aufgestrichen, aber er bekam die Hand nicht rechtzeitig zwischen den Hölzern heraus, als die Stange herabstieß. Sein Schreien lockte die Magd wieder heraus. Als Ludwig sah, wie der Knecht am Stamm in die Knie gefallen war, felsweiß das zerquetschte Gelenk umhielt, und das Blut an beiden Seiten, rannte er den kleinen Berg hinter dem Teich hinauf bis zu den dünnen Eichen und warf sich ins Moos. Er blieb, bis es dunkel war, dann schlich er zum Waldrand, sah unten ein einziges Licht auf dem Hof. In der Küche saßen die Bauersleute, sie sagten kein Wort, als er hereinkam. Der Knecht war nicht in der Kammer, Ludwig sah ihn nie wieder. Am nächsten Tag erzählte ihm die Magd die Geschichte und hatte Spaß dabei, die Einzelheiten auszumalen, und in Folge dieser Behandlung schlief Ludwig nicht viel in seinem ersten Sommer auf dem Land. Er blieb blass, ganz gleich, wie oft ihn die Bäuerin in der Mittagssonne an die Schuppenwand lehnte. Sobald er die Augen schloss, war da die Hand des Knechts, die auf ewig in der Hofstange eingewachsen war. Die Stelle hatte der Bauer mit Pech eingestrichen, es war ein schwarzes Mal, das Ludwig Honigbrods Ankunft in Pildau auf immer markieren sollte.
    Zu seiner großen Überraschung holten ihn die Eltern nicht ab, als der Herbst kam. Die Bäuerin hatte einen Brief erhalten, in dem stand, die Mutter wäre krank, hätte ein Gewächs, und es wäre für alle das Beste, das Kind bliebe vorerst auf dem Land. Ludwig sollte die Volksschule im Dorf besuchen, man hätte auch dorthin einen Brief geschrieben. Die Bäuerin schrieb zurück, dass man mehr Geld für Winterkleider des Jungen bräuchte, und die Eltern schickten. Ludwig bekam aber nur die Joppe, die vom Knecht übrig war, und ein langes Unterzeug. Er hatte die Kammer jetzt für sich allein, aber keine Vorstellung, wie er den Winter verbringen sollte. Warm war es nur in der Küche, die Übung bestand darin, lange dort auf der Ofenbank zu sitzen, ohne dass einer der Erwachsenen ihn zu einer Arbeit hinausschickte. Der Bauer hatte keinen neuen Knecht gefunden, es war schon Krieg. Ludwig ging also in die Schule, zu Fuß und allein, es war fast immer dunkel. Der Lehrer war strenger mit den Bauernkindern als mit ihm, weil er sehr gut

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