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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Scharnigg
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daran, dass sie kein Pflegepferd gehabt hatte.
     
    Unter der Woche besuchte sie jetzt manchmal Abendvorträge von anderen Fakultäten, es gab jeden Abend an den Colleges eine ganze Reihe an offenen Vorträgen und Vorlesungen, und weil man dabei nie etwas sagen musste und gehen konnte, wann man wollte, war es ein Zeitvertreib ganz nach Marlenes Geschmack. Eines Abends im März, es war ihr sechstes Jahr in Cambridge, besuchte sie einen Vortrag über Alan Turing. Der Dozent war ein Deutscher in gelber Kordhose und weinrotem Pullover, und seine Stimme hatte einen angenehmen Klang, wie wenn alle paar Silben ein Stück Kreide brechen würde, dunkel und klar. Während er sprach, sah er halb hoch über die Zuhörer hinweg, es waren nicht besonders viele gekommen. Marlene blieb bis zum Schluss, weil dieser Max Honigbrod gut erzählen konnte und Turings Lebensgeschichte so klang wie eine Zusammenfassung all der Cambridge-Romane, die Marlene jemals gelesen hatte. Am Ende fand man den besten Logiker der Welt tot neben einem angebissenen Apfel.
    Das war das erste Mal, dass Marlene dachte, es müssten ja auch bei ihr überhaupt keine vierzig Sommer mehr sein, es reichte etwas aus den kleinen Ampullen im Labor und ein Apfel. Wie einfach die Sache in ihrem Fall lag, war ihr noch nie aufgefallen, und sie musste lachen über ihre eigene Einfalt und applaudierte dann sogar stillvergnügt, während Max Honigbrod sich etwas affektiert in drei Richtungen verbeugte, obwohl nur in maximal zwei Richtungen Zuhörer saßen. Ohne dass sie später sagen konnte, wie er dorthin gelangt war, stand der Dozent dann neben Marlene, und das Erste, was sie aus der Nähe bemerkte, war, dass sein Bart im umgekehrten Mengenverhältnis zu seinen Haaren ergraut war.
    Was er sagte: »Ich freue mich, dass Turings Selbstmord Ihnen so gefallen hat, auch wenn ich betonen möchte, dass es bis heute nicht ganz gesichert ist, ob es Selbstmord war, aber diese Variante ist einfach faszinierender, nicht wahr?« Sein Englisch war geziert und leise, Marlene nickte und war nur ganz wenig erschrocken. Kein Zentimeter in diesem runden Gesicht war angetan, jemanden zu erschrecken, und es war lange her, dass sie aus zwei neuen Augen einfach nur angesehen wurde. Ein Mund, als würde er jederzeit in herzliches Gelächter ausbrechen. Marlene dachte eine ganze Minute lang an ihren Vater.
    »Waschzwang?« Max Honigbrod deutete fröhlich auf ihre roten Hände, die sich instinktiv in den Mantelsaum ballten. »Interessant, interessant, und welches fürchterliche Studium hat Ihnen das eingebrockt, wenn ich fragen darf?«
    »Wir können deutsch miteinander sprechen«, sagte Marlene, und es klang in ihren Ohren wie der vertrauteste Satz, den je ein nicht funktionierender Mensch zu einem Fremden gesagt hatte.
    Der Mann mit seinen Papieren unter dem Arm nahm ihn zum Anlass, die andere Faust in den Himmel des schäbigen Vortragssaals zu recken und laut zu rufen: »Oh, herrliches Jerusalem, eine Landsfrau mitten in Albion. Das müssen wir feiern.«
    Marlene musste lachen, und dann gingen sie in die Nacht hinaus, wo ein Frühlingsregen die Fassaden gewaschen und an den Straßenlampen und Telefonzellen saubere Girlanden aus Tropfen aufgehängt hatte. Sie fanden einen kleinen Pub am Ende der Straße, der Mann fragte unentwegt und ließ ihr immer genug Zeit zum Nachdenken, und je mehr er fragte, desto besser ging es mit den Antworten, bis sie sich am Ende, als der Barmann die Stühle rückte, ganz ausgeleert und leicht fühlte. Er brachte sie nach Hause, und unterwegs fiel ihr ein, dass er sie schrecklich finden musste, denn sie hatte ihn überhaupt nichts gefragt.
    »Sie müssen mich schrecklich finden, weil ich so viel gefragt habe, aber Sie dürfen sich gern revanchieren, ich bin noch eine ganze Woche da«, sagte Max Honigbrod, gab ihr eine Visitenkarte und verschwand nach einem komischen Bückling in der Nacht. Obwohl es jetzt regnete, trug er nur ein Wolljackett über dem weinroten Pullover.
    Sie trafen sich einmal zum Tee, einmal zum Abendessen, und dann schon trafen sie sich nur. Max Honigbrod wusste alles, Marlene konnte das wirklich einschätzen, denn sie hatte viel Zeit zum Lesen gehabt, aber vieles gleich wieder vergessen, während Max es behalten hatte. Wissen beeindruckte sie nicht so, wie viele Menschen an der Universität das von einer Wissenschaftlerin vielleicht annahmen. Die Wahrheit war, dass die meisten, die in ihrem Fach als brillant galten, nur um einen zwar verdichteten,

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