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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Scharnigg
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über die Urlaubsorte von Roberts Kollegen, das Motorrad und was alles in den Geschäften zu teuer war. Manchmal sprach Robert auch davon, wie sehr er sie liebte, vergötterte, das war sein Wort dafür, und das waren die schlimmsten Minuten, denn Marlene fand darauf nichts zu erwidern. Beinahe hätte sie wieder gelacht. Sah er nicht, wie wenig von allem da war, kaum genug, um zu fragen, wie es dem anderen ging, und das sollte Vergöttern sein? Das wenige störte sie nicht, es sollte nur nicht so falsch klingen. Sie nahm ihn schweigend in die Arme und kniff dabei die Augen zu, in der Hoffnung, er würde das in seinem Sinne deuten.
    Ihren fünfundzwanzigsten Geburtstag vergaßen Marlenes Mutter und Robert, und deswegen vergaß ihn Marlene auch, etwas später wurde sie krank. Sie war morgens so erschöpft, dass sie kaum aufstehen konnte, schlief mittags wie atemlos ein und erwachte spät und schwitzend hinter den halb geschlossenen Jalousien. Nachdem sie Robert versprochen hatte, dass sie nicht schwanger war, ging er wieder auf Montage. Sie ging zum Arzt, im Wartezimmer saß sie neben einer jungen Frau, die eine halbe Stunde lang weinte, da ging Marlene wieder heim. Dort probierte sie zu weinen, und als nichts kam, wurde sie eben wieder gesund. Sie schrieb Robert einen Brief, zwei Seiten, sehr ehrlich, nahm das Motorrad und fuhr im Schritttempo fast vier Stunden, bis sie bei ihrer Mutter war. Die Mutter blieb im Sessel sitzen, während Marlene ihr altes Zimmer bezog und die Heißmangel auf den Gang stellte. Später tranken sie Kaffee, aber es gab keinen Kuchen. Die Mutter hatte neue Ärzte. Robert schrieb noch einen Brief, in dem er sie vergötterte und das Motorrad zurückforderte. Sie stellte es hinters Haus und legte den Schlüssel in die Zuckerdose. Weil es ihr an der Universität am besten gefallen hatte, bewarb sich Marlene an einer britischen Universität, die ein Stipendium für Doktoranden ausgeschrieben hatte. Sie wurde genommen, schrieb ihrer Mutter den Namen der Universität auf einen Zettel neben dem Telefon. Es war ein sehr alter Name, aber die Mutter hatte noch nie davon gehört und war auch wegen anderer Sachen beleidigt.
     
    In Cambridge wurde Marlene von einer Tutorin erwartet, die Claire hieß und auf eine verschwenderische Art nett war, wie Marlene fand. Claire half ihr, ein Zimmer zu finden, und zeigte ihr den Campus, die Laboratorien und die Häuser der Professoren. Es war Frühling, und in den Parks dampfte die Feuchtigkeit des Winters in den Himmel. Die Studenten hier waren jung, und Marlene kam sich schon so alt vor. Das kleine Reihenhaus teilte sie mit einer Japanerin und zwei Engländern, die sehr höflich waren und trotz ihrer Krawatten immer aussahen wie frisch verprügelt. Marlene fühlte sich der Japanerin näher, die immer nur wortlos in ihrem Zimmer verschwand und morgens sehr früh in der Küche rumorte. Gelegentlich tranken sie Tee, lächelten sich vage an, und dabei blieb es. An den Wochenenden lag Marlene im Bett und las Bücher, in denen es um englische Elitestudenten und ihre homosexuellen Neigungen ging, ihre Verstrickung in kommunistische Spionagefälle und die Strenge ihrer Familien. Es gab viele Bücher mit nahezu demselben Inhalt, und jedes einzelne rührte Marlene zu Tränen. Wie befriedigend, dachte sie, musste es sein, wenn man eine alte Familientradition hatte, die man enttäuschen konnte.
    Dass sie hier viel Zeit in Laborkitteln und hinter Schutzbrillen verbrachte, befreite Marlene im ersten Jahr fast vollständig von ihrem Waschzwang, und auch sonst fühlte sie sich auf die genau richtige Art einsortiert. Immerhin hatte sie schone eine Beziehung gehabt, sogar mit einem eigenen Mann gewohnt, das war mehr als nichts, nun konnten ihre Busse fahren, wann sie wollten, Marlene würde immer darinsitzen, vordere Hälfte. Insgeheim hoffte sie, dass es durchaus üblich war, so ein Leben zu führen, und nur noch niemand ein Buch über diese Variante geschrieben hatte. Marlene genoss es, ihre Doktorarbeit so ausführlich und langsam wie möglich wachsen zu lassen. In der Pause zwischen den Trimestern fuhr sie an einen Küstenort, sammelte Versteinerungen am Strand, stand lange absichtlich unter überhängenden Klippen und traute sich auf ihrem Zimmer kein Geräusch zu machen, weil die Vermieterin unter ihr wohnte. In der zweiten Woche hatte sie Heimweh nach der Wohngemeinschaft und dem Poltern der beiden Jungs.
    Gelegentlich hatte sie auch etwas mit einem Mann, höfliche junge

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