Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
Himmel rührte. Ich war mir ganz sicher und bin es heute noch, dass dieses vereinte Starren der Balkonbesatzung die Kraft war, die die Stange in diesem kritischen Moment oben hielt. Der Großvater hatte in der Zwischenzeit den neuen Stecker angesetzt. Ein oder zwei Millimeter dicker, jedes Mal. Je dicker diese Stücke sein mussten, desto schwieriger war es, sie passend zu finden, weil natürlich eine Eiche mit ausreichendem Stammdurchmesser nötig war. Wir nahmen immer Eichen. Über die Jahre hatten die Opis schon entsprechende Bäume gesucht, ihre Besitzer ausfindig gemacht und sie ihnen abgekauft. Sie waren in mächtigen Stämmen in unserem Schuppen gelagert, um zu trocknen, und lange vor dem nächsten Stangentag fing der Großvater an, das neue Stück auszuwählen, es zu vermessen, zu entrinden und auf die richtige Dicke zu schleifen, dann schnitt er mit einer Motorsäge den Stift heraus. Eingesetzt wurde der neue Meter in die angehobene Stange mit zwei einfachen Wagenhebern. Es dauerte, bis die beiden Männer sie richtig ausgerichtet hatten und schließlich langsam ankurbelten, bis sich das Rundstück gerade in die Stange bohrte, die immer noch von der Kraft der Hebelanlage und des Traktors oben gehalten wurde. Die beiden Endflächen bestrich der Großvater vorher mit einem Sud aus erhitztem Harz, in den er noch einige andere Zutaten gegeben hatte, ich erinnere mich an Bier und Pferdehaar, er wollte mir nicht verraten, wo die Pferde dafür waren. Dieser Kleber sorgte dafür, dass die einzelnen Segmente nicht drehten oder schlugen und der Stamm mit seinen vielen Einzelteilen schließlich fast wie ein Stück zusammenwuchs. War der Stift angesetzt, ließen sie die Antriebswelle des Traktors langsam auslaufen, einen Augenblick lang war es ganz still, dann ruckte die hochgehaltene Stange unter ihrem eigenen Gewicht ein Stück zurück in die Fassung und donnerte majestätisch auf ihr neues Ende. Die Hölzer plockten tief, der Boden schütterte, die Enten auf dem Löschweiher flogen auf, und wir bekamen alle gleichzeitig wieder Luft.
Erst jetzt durften wir dazukommen, die ganze kleine Bevölkerung von Pildau scharte sich auf dem Podest um die neu gewachsene Stange und war zufrieden. Niemand arbeitete an diesen Tagen, keiner benutzte die üblichen Wege, und alle Arme waren uns Kindern offen. Ich weinte immer, wenn an den Stangentagen die Sonne unterging. Was war es, das immer alles Schöne gleich wieder vorbei sein ließ? Was hatte das für einen Sinn, konnte nicht alles sein wie die unsichtbare Schleie, die Tag für Tag gleich war, nämlich unsichtbar? Diese Frage war eine der wenigen Fragen, die auch in meiner Gutenmorgengeschichte nicht beantwortet wurde. Der Reiseritter Robert weinte nur immer ein bisschen, wenn die Kirchturmuhr halb sieben schlug, damit war das Thema offenbar ausreichend gewürdigt. Aber unsere Kapelle in Pildau hatte gar keine Glocke.
Lene blieb den ganzen Sommer. Ich weiß nicht, ob es an Lada lag oder ob sie nichts anderes zu tun hatte, aber sie blieb, und weil sie ihn nicht gern kochte, hatten wir zu viel Mangold angepflanzt. Sie fuhr dafür manchmal mit dem Motorrad über den Feldweg sehr langsam in die Stadt und kam mit Einkäufen wieder, die Lada und ich auspacken durften, es gab Süßes und für Lada Sachen, die man in Pildau noch nie gesehen hatte, neue passende Kinderkleidung, gegen die sich mein täglicher Aufzug recht deutlich abgehoben haben muss, was mir freilich gleichgültig war.
Es war dieser Sommer, der mir bis heute immer in den Sinn kommt, wenn jemand das Wort Sommer mit jener schwärmerischen Langsamkeit ausspricht, es war so eigentlich bis heute mein erster Sommer. Wenn man die Zeit noch nicht kennt, weil man keinen Kalender und keine Uhr lesen kann, hat man die allerbesten Voraussetzungen für einen richtigen Sommer, in dem sich irgendwann in den ersten Anfängen eines überhitzten Nachmittags und zwischen den winzigen Blütenblättern eines Gänseblümchens nichts mehr bewegt und das Flimmern über dem Dach der Scheune zu einem Flimmern der ganzen Welt wird. So ein Sommer war das.
Mit Lene an ihrer Seite war Lada weniger schwermütig, sie blieb immer noch gern an ihrem Fenster, aber irgendwann stand sie auch neben uns, als wir die Schleie fütterten. Ich erklärte ihr, was es damit auf sich hatte, zeigte ihr die Mutproben, machte ihr vor, wie sie von der Birke fallen musste, und sie machte es mir nach, mit einer Nebensächlichkeit, die mir ein bisschen seltsam vorkam,
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