Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
Ludwig freundlich auf die Schulter. Der Dolmetscher versuchte aus den nun fliegenden Aufmunterungen die Botschaft für Ludwig zu fassen, entschied sich letztlich für ein vages: »Das wird sich noch fügen, mein Herr.« Dabei blieb es an diesem Tag.
Wie ihm geheißen, nahm Ludwig ein Quartier in der Stadt, auf Einladung des amerikanischen Verwaltungsstabs. Abends sah er die zerschlagenen Viertel, die Schuttkegel, aufgerissene Badezimmer im zweiten Stock. Er erkannte beinahe nichts wieder, nachts saß er wach auf seinem Bett, es war so weich, und die Geräusche aus dem Haus ließen ihn nicht schlafen. Nach zwei Tagen, in denen er viel gelaufen war, aus dem Schutt das eine oder andere geborgen hatte, was ihm noch nützlich erschien, Kurbeln und Schalter, isolierte Leitungen und Schrauben, bekam er von den Amerikanern seine Papiere. Da hatte er es nun, seine Adresse, zum ersten Mal festgehalten, Ludwig Honigbrod, Hofstelle Pildau. Ihm fiel ein, dass er seit Jahren seinen Geburtstag nicht bedacht hatte. Er war einfach älter geworden. Das Zimmer, in dem er hier wohnte, hatte einen altmodischen, großen Spiegel, in Pildau hatte Ella nur einen polierten Metallspiegel, der mit der Zeit stumpf geworden war. Ludwig besah sich mit dem Interesse eines Zahlenmenschen. Sein Kopfhaar hatte er etwa im gleichen Maß verloren, wie seine Brauen an Ausdehnung erreicht hatten, jeweils im Verhältnis zu dem Zustand, an den er sich erinnerte. Nase und Ohren schienen ihm ohne irgendeine Geometrie gewachsen. Er war schon dreiundvierzig Jahre alt und sah sich zum ersten Mal fest in die Augen. Der Erdkeller war darin, die vielen Fragen, auf die es keine Antwort gegeben hatte, und zu seiner großen Überraschung auch immer noch eine Hoffnung auf Ella. Das ließ ihn den Koffer packen, die Sachen, die er auf der Straße gesammelt hatte, schnürte er zu einem Bündel aus einem Stück Zeltbahn, das er gefunden hatte.
Die Amerikaner boten ihm in einer Depesche an, sich um das Weltpatent für seinen Rübenernter Universal zu kümmern. Er unterschrieb in der Verwaltungsstube noch mal manches, in Wirklichkeit rechnete er sich nicht viel aus. Alles lag danieder, kein Mensch dachte an einen Rübenernter, und er hatte keine Vorstellung, wie lange es dauern würde, bis man die Maschine serienreif herstellen könnte. Der Weg zurück nach Pildau war beschwerlich, die Züge fuhren nicht, er ging ein gutes Stück zu Fuß und schlief einmal in einer abgedeckten Remise. Die Sterne über ihm waren da schon die gleichen, aber alles, alles war doch unendlich weit entfernt.
Als er wieder auf dem Hof stand, war Pildau verlassen. Auf dem Tisch lagen drei Sachen für ihn. Ein Zettel von Ella, ein Brief von Stuart und ein ganzer Stapel dichtbeschriebener Papiere von Max. Er las den Brief von Stuart, der in wackligem Deutsch folgende Zeilen enthielt:
Lieber Wigg,
es ist nicht mit Freude wenn ich schriftlich sagen muss wie gut du alles getan hast. Du rettest mein Leben, du weißt. Aber jetzt muss ich gehen und wie es ist, Ella und Max sind mit mich, eine Zeit vielleicht. Lass sie gehen, ich bitte und werde sie beide tragen.
Du weißt, du weißt und nicht vergessen: Der Himmel ist mein Mütze.
Yours,
Stuart
Stuart hatte in sehr enger, sauberer Schrift geschrieben, was den Brief mit seinem Satzbau noch komischer wirken ließ. Ellas Seite lag ungefaltet auf dem Tisch, es war ganz sie, fand Ludwig, dass es ihr nichts ausmachte, wenn die Worte so offen zwei Tage oder länger in der Küche lagen. Bevor er den Schrieb nahm, sah er hinaus in den Hof, eine Sekunde nur, schau, sagte er sich, so ist die Welt vor unserem letzten Gespräch.
Ludwig,
Du musst nicht denken, ich hätte es schon lange so im Sinn gehabt. Nur weil halt das Englische, sagt Stuart, mir gefallen würde und er dem Buben eine Schule wüsste. Er muss ja endlich richtig lernen. Denk Dir, übers Meer hinaus geht das dann mit uns. Ich weiß wohl, jung bin ich nimmer, aber gereut hat es mich doch, gar nichts zu kennen von der Welt und weil auch Krieg war, allweil. Jetzt ist es schon so, und Du sollst dir keine Sorgen machen um uns und nix Schlechtes wünschen. Es war halt nicht mehr so eng zwischen uns, nicht wahr, das sagst du auch? Man braucht doch seinen Frieden, und der Stuart, auch wenn er so viele Jahre weniger hat, ist doch ein rechter Officier, und man kann ihm schon vertrauen.
So, machst auch für uns noch mal einen Stecker in die Poln, ich bitte schön.
Ella Kreszenz Honigbrod, geb.
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