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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Scharnigg
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Wimseder
    Ihre Schrift waren weite, altmodische Bögen. Ludwig sah wieder hinaus, und nichts hatte sich verändert. Das hatte er erwartet. Es war aber doch etwas neu. Das Alleinsein machte jedes Geräusch um ihn anders, er hörte die Tür der Kapelle schwer in den Angeln reiben, die Birken über dem Löschteich nahm der gleiche Wind in eine rauschende Verbeugung, die Tür stand offen. Das ist es jetzt, das ist die Gesellschaft, die du noch hast, der Wind und die Geräusche von Türen, hinter denen nichts wartet.
    Das Schlimmste war Max. Ludwig brauchte ein paar Tage, dann hatte er das ausgelotet. Wie wenig hatte er mit dem Jungen gemacht, weil doch so viel Zeit war, und jetzt war sie nicht mehr. Nachts in der Kammer sah er das freundliche Gesicht und ging ein paar Schritte mit ihm, sah ihm zu, wie es das ganze Neue erfasste und wie mit jeder neuen Sache eine alte ausgelöscht wurde, war es nicht so? War es nicht so, dass der Junge in einem halben Jahr schon nur noch eine vage Erinnerung an ihn haben würde, weil doch so viel sich vor seinen Füßen ereignete? Ludwig Honigbrod sah im Schlaf die vielen anderen Jungen, mit denen Max spielen würde, er sah alle Freunde seines zukünftigen Lebens, sah ihn auf Stegen über dem Meer balancieren und Wörter auf Kreidetafeln schreiben, die er nicht mehr lesen konnte. Er weinte laut, wenn er das träumte, es kam einfach so aus ihm heraus. Es waren keine Tränen, es waren tiefe Züge, mit denen er aus seinen Träumen fuhr, das Haus hallte wider von diesem unhaltbaren Schluchzen. Es würde nie weniger werden, da war er sicher, er würde jede Nacht so fürchterlich weinen müssen, weil es nichts anderes gab, was er tun konnte. Er konnte Rübenernter ohne Fahrwerk konstruieren und Flugzeuge aus seinem Feld verschwinden lassen, das waren handfeste Aufgaben. Aber der fehlende Max wurde nie weniger, da gab es nichts zu improvisieren.
    Er magerte ab, weil die Weinkrämpfe der Nacht so viel Kraft brauchten, er aß tagsüber von ihrem alten Zuckerberg, ließ Mangold und Brot eindicken, bis es ein einziger fester Brei war, und trotzdem wurde Nacht für Nacht seine Haut über den Rippen dünner, wenn er sich krampfend in sich selbst eindrehte, um nur irgendetwas zu halten, dann war er ein einziger fröstelnder Haufen aus Knie und Knochen. Das ging so ein halbes Jahr, dann wurde es weniger. Nicht besser, aber er hörte auf zu träumen, er schlief und wachte und hatte sich alles andere verboten. Er hatte es noch nicht geschafft, zu lesen, was Max ihm hinterlassen hatte, die Seiten waren, in braunes Papier eingeschlagen, oben auf dem Schrank, und Ludwig Honigbrod wagte es nicht, auch nur ein Stück davon zu lesen, so kostbar war es und wäre ihm jedes Mal wie Verschwendung vorgekommen.
    Er begann das Haus zu sanieren, es war seit Jahren nichts gemacht worden, und das war nun wieder etwas, das er mit ein wenig Nachdenken bewältigen konnte. Er begann mit dem Ölen aller Türen und endete mit der Restaurierung des kleinen Altars in der Kapelle. Es war Winter, und es war eisig in dem Kirchlein, und obwohl es ihm nichts bedeutete, gab sich Ludwig Honigbrod große Mühe. Er mischte aus Pigmenten Farben, einem Vertreter, der bis nach Pildau gekommen war, kaufte er Pinsel und Lacke ab, so viel, wie sein Geld noch hergab. Die Felder hatte er an die Bauern aus dem Dorf verpachtet, sehr günstig, er behielt nur den Hausgarten und wollte es nicht anders, und von dem Pachtgeld kaufte er, was er für die Hofstelle brauchte. Er elektrifizierte das Haus, eine Lampe in jedem Raum und eine Steckdose, das wäre auf alle Zeit genug. Er hatte ja gar keine Geräte dafür, aber es schien ihm trotzdem angebracht, den Hof annähernd auf der Höhe der Zeit zu halten. Eine Zeitlang hatte er ganz an den Verkauf gedacht, aber es war ihm nicht eingefallen, wohin er dann sollte. So reparierte er Tag um Tag, hielt den Rübenernter rostfrei, zog alle Fugen nach, dichtete jedes Dach, schliff die Böden und dann die wenigen Möbel, verbesserte die Hydraulik der Hofstange so weit, dass er die Stange allein mit dem Traktor längen konnte, wenn kein Wind ging. Aber er längte nicht in diesen Jahren, es tat ihm zu weh. Das schwarze Pechmal mit der Hand des Knechts war längst nicht mehr auszumachen, die Stelle war im dunkel gewitterten Holz weit oben verschwunden, und was, dachte Ludwig Honigbrod, machte es, wenn er diese Stange nun einfach sein ließ? Es würde ihm niemand mehr darin folgen, und es waren zu viele Bomber durch

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