Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
du?«
»Fast schon alles.«
Diese Mitteilung warf mich um. Da mir Lada als jünger vorgestellt wurde und mir ihre roten Wellenhaare nur knapp bis an die Nase reichten, war ich von einem ganz natürlichen Rückstand ausgegangen. Sie hatte ja auch gerade erst angefangen zu sprechen!
»Zeigst du es mir, das Schreiben, also vielleicht das halbe?« Insgeheim schätzte ich, dass sich mir aus der einen Hälfte die andere schon erschließen würde.
Lada spazierte wie schwerhörig eine Weile in meinem Zimmer herum. »Was krieg ich dann?«
Das alles war mir so fremd. Ich kannte die freigebigen Ergüsse meines Vaters, das Wenige und Weiche, mit dem der Großvater auskam, aber Ladas Lauern und ihr kühles Fordern bestaunte ich als etwas ganz Neues in Pildau, auf das ich überhaupt keine Antwort hatte. Nicht nur das, es fehlte mir auch an brauchbaren Pfändern, bis auf den Inhalt meines Kleiderschranks besaß ich nur meine Schatzsammlung, die ich ihr oft genug vergeblich angeboten hatte. Sollte ich ihr Mangold aus dem Garten pflücken, eine Mutprobe für sie machen? Blanke Furcht befiel mich bei dieser Bilanz, nach der ihr nichts von meinen Besitztümern genügen würde. Ich fing an zu weinen. Es war ungerecht, nichts zu bieten zu haben. Ich weinte nicht oft, aber wenn, hatte es immer kolossale Ergebnisse gezeitigt, was, wie ich vermute, zu den Vorteilen gehört, wenn man ohne Mutter aufwächst. Für Männer sind Tränen immer ein letztes Aufbäumen, nächste Station ist die große Haltlosigkeit.
Lada betrachtete interessiert meine Reaktion, ließ mich noch ein wenig greinen, dann sagte sie: »Gut. Ich kann’s dir zeigen. Aber nur halb, und ich darf später alles haben, was ich will, wenn du etwas hast.«
Ich nickte.
Sie setzte noch ein »Für immer« hinterher und machte ihren siedenden Blick zum Siegel dieses kleinen Handels. In mir hallte das Schluchzen noch nach, das letzte tränenlose Schaudern, mit dem man für gewöhnlich alles abschüttelt – hier trug es schon die Hoffnung, dass Lada mit dem »Für immer« das Gleiche meinte wie ich. Ein endloses Aneinanderreihen von Mutproben, Stangentagen und Sommern, durch das wir uns fortan bewegen würden.
»Heute Abend hast du Schule, du bist in der ersten Klasse«, sagte sie streng und verschwand in ihr Zimmer.
Ich sortierte mein Tagebuch und seinen losen Inhalt wieder zusammen und begann mit der Überlegung, was der erste richtige Tagebucheintrag sein müsste. Die allgemeine Problematik der unsichtbaren Fische? Die Ankunft der Lene-Mama? Schließlich war das neben den Stangentagen die größte Aufregung. Die Geschichte von Ladas Geburt aus dem brennenden Kofferraum würde für den Anfang vielleicht zu anspruchsvoll sein. Schließlich bekam ich nur das halbe Schreiben gelehrt, und ich wollte keinesfalls riskieren, dadurch die Dinge zu verzerren, die mein Vater auf der Bank erzählt hatte.
Abends nach dem Essen begann, was Lada und ich die nächsten Tage »Schule« nannten. Ich erinnere mich an die Regeln dieses Spiels, die mich auf dem Boden sitzen ließen, während Lada als Lehrerin auf meinem Bett stand und mir von dort oben aufgab. Ich musste lange Reihen mit ganz unsinnigen Schnörkeln malen, die noch gar keine ganzen Buchstaben waren, sondern laut Lada erst mal meine Finger weich machen sollten. »Du hast leider eine sehr schlechte Hand zum Schreiben«, stellte sie dazu fest, was mir ein etwas verfrühtes Urteil zu sein schien.
War eine Reihe mit Schnörkeln fertig, musste ich ihr das Blatt reichen, das sie mit großer Geste durchsah, dann wies sie mich zurecht und machte in einer Art, als würde es ihr große Mühen bereiten, die nächste Schnörkellinie vor. Am Ende der ersten Schule hatte ich das kleine b gelernt und hoffnungsvolle Anläufe auf das kleine k unternommen. Es ging fürchterlich langsam, und Lada war als Lehrerin einigermaßen willkürlich. Wenn sie sah, dass ich zum Beispiel eine Linie mit halben großen Ms mit gutem Schwung und zügig aufs Papier brachte, sagte sie, es wäre nicht sauber genug und ich müsste es noch mal machen. Wenn ich lange brauchte, das h war so ein Kandidat, wurde ihr langweilig, und sie gab mir ungeduldig gleich das l auf, von dem sie wusste, dass ich es schon ausgezeichnet beherrschte.
Eines Abends, ich war immer noch in der ersten Klasse der Lada-Schule und hatte keine große Hoffnung mehr, dass aus den zahllosen Schnörkellinien, die sie mich lernen ließ, jemals etwas wie Schreiben werden würde, besuchte uns die
Weitere Kostenlose Bücher