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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Scharnigg
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streiten schienen, waren sie sehr nett zu ihm, die Frauen brachten ihm selbstgebackenes Brot und boten an, ihn zu massieren, die Männer fragten ihn in allen möglichen Dingen um Rat oder baten ihn, etwas aus seinem Leben zu erzählen, was Ludwig beschämte, weil er doch kaum etwas erlebt hatte. Sein zaghaft vorgetragener Bericht über die Zeit im Erdkeller fand aber zu seinem Erstaunen eines Abends allergrößte Bewunderung, in einer ehrfürchtigen Prozession musste er die ganze Gruppe der Zuhörer, es waren mittlerweile über dreißig Menschen, zu dem Erdkeller führen, jeder Einzelne setzte sich darin an die Wand, schloss die Augen und horchte in das Innere hinein. Es wurde ein Ritual, das Ludwig bald alle paar Tage für Neuankömmlinge wiederholen musste, die Anführer der Gruppe, jene ersten Männer in dem Renault, hielten in der kleinen Höhle schrill summende Reden, und nach den letzten Worten umarmten sich alle Zuhörer stumm und mit großem Ernst, auch Ludwig wurde umarmt. Eines Abends kam ein Mädchen zu ihm, das sie Mary nannten. Sie trug nur eine kurze Hose, setzte sich nah neben ihn und schwieg. Dann sagte sie ihm, er müsse nicht mehr traurig sein wegen Ella, ihre Entscheidung wäre damals die erste Entscheidung eines freien Individuums gewesen, und das wäre etwas, das man feiern müsste, aus diesem Grund wäre sie heute Abend bei ihm. Sie sah ihm aufrichtig und lange in die Augen, Sommersprossen und dunkelbraune Augen und kein bisschen Ella, aber Ludwig sagte nach einer Weile, er wäre zu alt und es wäre nichts mehr. In Wirklichkeit war er aber nur sehr verlegen. Sie gab ihm einen Kuss, etwas besonderen Tabak für seine Pfeife und ging zurück zu den anderen, im Schein des Lagerfeuers sah Ludwig von seiner Bank aus deutlich ihre Umrisse und die Funken, die ab und zu aus ihrem Kopf direkt in den weichen Nachthimmel stiegen. Das Marihuana in dem Tabak gefiel ihm, auch wenn er nie das Verlangen hatte, sich danach ins Gras zu legen oder den steilen Berg hinunterrollen zu lassen, wie die anderen das taten. Nein, es war reizvoller, danach in den Garten zu gehen, wie er es jeden Tag tat, aber irgendwie näher an den Pflanzen zu sein. Der Mangold roch dann wie damals, als er nur nachts erntete und immer dabei war, wenn die Pflanzen kurz vor Sonnenaufgang ihre Poren öffneten und einen ganz innigen ersten Duft verströmten. Er hörte, wie sich die Blätter in einer winzigen Bewegung entrollten und wie sie leise knisternd aneinanderrieben.
    Als der Sommer zu Ende ging, verschwanden einige der Zelte, aber eine kleine Gruppe der Eddie Sloviks, wie sie sich selbst nannten, blieb einfach. Sie verdienten etwas Geld mit den restaurierten Bauernmöbeln und fuhren die Dörfer ab, um nach neuen Stücken zu suchen. Der Erdkeller und die Scheune wurden ihre Unterkunft, als der Schnee kam, aber zum Rübenernter ließ Ludwig niemanden hinein. An den langen Abenden saßen alle in der Küche, tranken Zuckerkaffee und arbeiteten ein Manifest aus, das Grundlage einer friedlichen, vegetarischen und kosmisch orientierten Revolution werden sollte. Ludwig war enttäuscht, als er feststellte, dass es bei »kosmisch« nicht um eine ernsthafte Einbeziehung astronomischer Gesetzmäßigkeiten ging, sondern dass unter diesem Schlagwort allerlei haltlose Versprechen hinsichtlich sogenannter Kraftfelder und Lebensenergien gemacht wurden. Um Eddie Slovik ging es nur noch in der Präambel, die ihn zu einem pazifistischen Märtyrer erklärte. Das Pildauer Manifest schrieben sie in der ersten Märzwoche auf zweiundzwanzig Seiten Papier und brachten es in die Stadt, um es zu vervielfältigen. Erst später an diesem Tag bemerkte Ludwig, dass die Sloviks dafür das Papier von dem Schrank genommen hatten, eingeschlagen in braune Pappe und auf der Vorderseite mit Kinderschrift eng beschrieben. Alle Versuche, das Originalmanuskript wiederzubekommen, scheiterten, er wandte sich an das Mädchen Mary und die Anführer, aber alle drei antworteten ihm etwa das Gleiche, wonach die Sache viel zu groß wäre, um noch einzelne Interessen zu berücksichtigen, und er solle mit der Vergangenheit abschließen und im Jetzt leben. Das verdross Ludwig, und er machte sich schwere Vorwürfe, dass er die Seiten nie gelesen hatte. Was war er denn für ein Vater, wenn er nicht mal die einfachsten Gaben seines Sohnes nehmen konnte? Er schämte sich und mied fortan die Sloviks, die in diesem zweiten Sommer ihr Lager noch ausdehnten, Ludwig zählte einunddreißig Zelte,

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