Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Scharnigg
Vom Netzwerk:
sie standen bis oben am Waldrand. Sie hatten den alten Hofbrunnen gereinigt und benutzten ihn geduldig nacheinander, auch Kinder waren da, aber sie fürchteten sich vor Ludwig, und er ging nicht mehr mit ihnen zum Erdkeller hinauf, die Lagerältesten hatten diese Führungen selbst übernommen. Das Pildauer Manifest war in einigen Zeitungen abgedruckt worden und hatte beträchtliches Aufsehen erregt, aus dem Radioapparat, den einer der Sloviks dabeihatte, hörten sie von Demonstrationen im Zeichen des Manifests in allen großen Städten, und die ganze Runde jubelte über diese Meldung, sie tanzten und umarmten die Stange. Immer länger dauerten in diesem Sommer ihre Ratssitzungen, und Ludwig schrieb in seinen Briefen an Max, was für haarsträubende Dinge dabei mittlerweile diskutiert wurden. Ihre Hauptredner wechselten jede Woche, Slovik war ihnen genauso unwichtig geworden wie der Mangold, den die Kinder einfach in der Mittagshitze ausrissen, halbhoch und mitsamt der Wurzel. Ludwig wusste längst, dass er das Lager nicht einfach räumen konnte, sie waren so viele, und die Begeisterung für diesen wahren Ort, wie sie ihn fortwährend nannten, würde sich nicht so schnell eindämmen lassen. Als die Notstandsgesetze verabschiedet wurden, erreichte die Belagerung von Pildau ihren Höhepunkt, Ludwig versuchte, mit Mary und den beiden Männern zu reden, man müsse den Zuzug begrenzen. Aber sie waren geradezu berauscht davon, dass sich zwischen den Zeltlagern schon ausgetrampelte Pfade befanden und die ganze Hofstelle ein Durcheinander von beschmierten Betttüchern, Feuerstellen, rostenden Autos und ausgebreiteten Decken war, auf denen nackte Kinder spielten, während die Eltern sich an den Händen hielten und die Stirn an die Hofstange legten. Es ist das der Ort der Gegenbewegung, riefen sie so lange an Ludwig Honigbrod hin, bis dieser aufgab und sich in den ersten Stock des umzingelten Hauses verzog. Frühmorgens, wenn es im Lager noch ruhig war, stieg er jetzt über die Schlafenden, löschte die Feuer, die sich in die Grasnarbe gebrannt hatten, sammelte Scherben auf und fütterte die Schleie, die er seit dem ersten Bad der beiden Männer im Löschteich nicht mehr gesehen hatte.
     
    Die Befreiung von den Befreiten ereilte Ludwig unverhofft an einem sehr warmen Tag Anfang September, der eigentlich Höhepunkt der »Ständigen Sommertagung der Eddie-Slovik-Gesellschaft« werden sollte. Alle waren an diesem Tag aufgebrochen, über den Hügel und durch den Wald mit den dünnen Birken waren sie gezogen, und auf der anderen Seite wieder hinunter, um die Straße zu blockieren. Es sollte an diesem Tag ein Konvoi der Amerikaner stattfinden, die direkt an der Grenze zur Tschechoslowakei eine Abhörstation errichten wollten, mit drei riesigen Radarschüsseln, Ludwig hatte in einem Flugblatt die Abbildungen dazu gesehen. Er fand Radartechnik höchst interessant, aber das sagte er nicht laut. Stattdessen begleitete er den bunten Tross bis zur Aussicht, sah zu, wie sie, singend und irr auf Tamburine schlagend, bis hinunter zur Straße zogen und sich in einer Sitzformation niederließen, die sie tagelang vorher geübt hatten und die Anlass für heftige Auseinandersetzungen gewesen war. Niemand hatte sich dafür interessiert, ob Ludwig mitging, und er war froh darum. Seit er selbst seinen langen Bart abgenommen hatte, schien das Vertrauen der Sloviks in ihren Präsidenten nicht mehr sonderlich groß zu sein, und als sie entdeckten, dass er Briefe mit amerikanischen Stempeln und Kontoauszüge mit Dollarzeichen darauf besaß, hatten einige laut gefordert, er müsse sich vor der Gruppe erklären. Aber Ludwig war einfach weggegangen, was konnten sie ihm schon tun, einem alten Mann?
    Das alles ging ihm oben an der Aussicht durch den Kopf, während er zusah, wie sich die Autos auf beträchtlicher Länge vor den Sitzenden stauten, er hörte das Hupen, zählte die Wagen und sah zu, wie sich bald von hinten eine Reihe von Polizeibussen an der Seite vorbeidrückten, er sah sie von weitem. Die Polizisten aus den Bussen warfen sich auf die Bunten, es sah aus, wie sich Ludwig etwas Künstlerisches vorstellte, das Grün mengte sich mit dem Gelb, die Figuren tanzten ineinander, und das Hupen der wartenden Autos hatte gänzlich aufgehört. Es war ein stilles Ringen, das Scheppern der fallenden Tamburine hörte er oben nicht. Zu seinem Erstaunen passten alle Sloviks in die Polizeibusse, nach zwei Stunden war die Straße wieder frei, der Verkehr rollte

Weitere Kostenlose Bücher