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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Scharnigg
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auf die Bettkante und besah mir alles. Sie trug ein gestreiftes Nachthemd, das Lene ihr mitgebracht hatte. Es hatte keine Ärmel, ich sah an ihren weißen Armen entlang bis zur kleinen Grube, die dort aufging, wo Arm und Brust zusammenlagen. Es war schön da, wie von selbst legte ich meinen Zeigefinger in ihre kleine, kahle Achselhöhle, und er blieb immerhin eine ganze köstliche Sekunde darin, bis sie spitz zusammenfuhr, mir das Weiche entzog und weit unter die Decke verschwand. Aber ich hatte schon alles gehabt und trage es seitdem in meinem Zeigefinger. Ladas schlafwarme Achselhöhle war fortan mein Ziel, die neue und schönste Mutprobe auf Pildau.
     
    Später an diesem Tag, an dem der Großvater lieber bei seiner Maschine saß und nicht im Garten war, obwohl dort noch alte Mangoldstauden mit Blättern wie Palmwedel standen, gingen Lada und ich in den Wald zu den dünnen Eichen. Oder vielmehr war es einer von Ladas Streifzügen, mit dem ich meine Bahnen irgendwann wie zufällig kreuzen ließ. Die Trichtergruben und den Pfad zu unserer Aussicht ließ sie hinter sich, pflügte quer durch die Heidelbeeren, bis sie auf der anderen Seite des Hügels, etwas oberhalb der Aussichtsbank und der Haselnusssträucher, herauskam, was umständlich war, weil hier niedrige, wilde Rosen mit ihren Hagebutten zu einer dichten Hecke am Waldrand gewachsen waren. Lada kämpfte sich durch die Stacheln, hielt mir freundlich immer gerade den letzten Ast hinter sich auf, dann saßen wir auf der anderen Seite des steilen Berges und sahen hinunter auf die Straße. Ich war noch nie allein an der Aussicht gewesen. Obwohl die Opis ihre Verbote schon lange nicht mehr erneuert hatten, waren mir die alten Grenzen unwiderruflich geworden. Ich fühlte gar keinen besonderen Drang, darüber hinauszuwandern. Die Schule und mit ihr das Treiben der anderen war abschreckendes Beispiel für das Hinterland genug, und wenn ich manchmal aus unserem Maisfeld-Spiel auftauchte, auf einer ganz anderen Seite des Feldes und weit weg von den bekannten Ausschnitten Pildaus, fühlte ich nichts als brennenden Drang, wieder innerhalb meiner vertrauten Gemarkung und zurück zu sein.
    Lada betrachtete fasziniert die Autos unter uns. Man hörte hier oben nur das Gesamtrollen, die einzelnen Autos fuhren darin wie lautlos und aufgezogen vor und zurück. Die Oktobersonne legte matten Honig um jeden einzelnen Grashalm zu unseren Füßen, wie eine sterbende Mutter, die all ihre Kinder noch mal sehen will, ließ sie alles leuchten. Die Frontscheiben in der Ferne schickten immer einen kurzen Sonnenblitz zu uns. So saßen wir lange, Lada ganz in die schnelle Bewegung der Autos vertieft und ich in sie.
    »Da glitzert was«, sagte Lada und zeigte mit dem Kinn in die Richtung. In der Straßenböschung wand sich tatsächlich etwas wie ein schillernder Faden, der mir früher nie aufgefallen war. Wenn man länger hinsah, erkannte man, dass es nicht nur an einer Stelle so war, der Faden hing hier und dort und schwankte mit den Ästen, und manchmal reflektierte es zu uns herüber, als wären da Spinnfäden.
    »Spinnfäden vielleicht?«
    »Das sind doch keine Spinnfäden«, sagte Lada und war wieder auf den Beinen, ein angriffsbereites kleines Tier, den Blick auf die weit entfernten Schnüre in den Büschen gerichtet. »Gehen wir hin?«
    Lada sah mich nicht an bei dieser Frage, sie wusste schon, dass wir nicht hingehen würden. Hier mit ihr zu sitzen war süßer Nervenkitzel genug für einen Neunjährigen. Ich weiß nicht mehr, was ich zu ihr sagte, vielleicht ist es normal, dass man die eigenen Sachen fast sofort vergisst, während man die Fragen der anderen mit sich nimmt. Wir gingen jedenfalls an diesem Nachmittag im späten Herbst nicht hinunter zu den glitzernden Fäden an der Straße. Wahrscheinlich, weil der Tag schon so kurz war, was mich bis heute mit einem Alpdruck belegt. Ich habe nichts gegen die Dunkelheit, der Übergang ist es, der die Schwierigkeiten macht. Der ungefähre Herbst, der noch nicht ganz Winter ist, das sinnlos übrige Leuchten des Mangolds, der doch schon faules Laub sein müsste. Das unterletzte Tageslicht, in dem die Scheunentür, die Jacke des Großvaters am Schuppen gerade noch so zu erahnen sind, diesen Dingen, davon bin ich fest überzeugt, wohnt größter Schrecken inne. Als könnte man in ihrem vagen Hell noch bis an die Straße laufen, als würde es einen nicht unterwegs verschlucken. Nein, ich musste diese Übergänge in der Küche und der Nähe des

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