Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
Großvaters aussitzen, oder auf Ladas Bett.
Aber manches von diesem späten Tag, an dem wir allein hoch oben über der Straße saßen und der Großvater stumm und außer der Reihe seine Maschine besuchte, nahmen wir mit in den Winter. Die Kratzer der wilden Rosen, die winzigen Narben, die sie in Ladas Armen ließen, das bisschen Wärme, das noch im Gras gewesen war, und das unergründliche Funkeln in der Ferne blieben bei uns. Ich weiß es, weil wir so oft darüber sprachen, was es sein könnte, was wir gesehen hatten. Sobald ich mit Lada allein war, auf dem Schulweg oder am Nachmittag in ihrem Zimmer, wenn wir auf ihrem Fensterbrett lagen und versuchten, Spuckefäden in den Schnee fahren zu lassen, dann überlegten wir auch, wie die glitzernden Bänder an die Straße gekommen sein konnten. Jeder kennt solche Begebenheiten, die man nicht mehr anders als in der Erinnerung bei sich hat und die deshalb ziemlich bald ganz eigene Formen und Farben annehmen. Je länger wir darüber sprachen, desto funkelnder wurden uns die Bänder, im Januar kamen sie mir längst wie Diamantschlieren in der Straßenböschung vor, die wir bestimmt nie wieder zu sehen bekämen. Es fühlte sich so recht an wie etwas aus einem Märchen, und als ich eines Abends meinem Vater davon erzählte, mit aller inzwischen gewachsenen Dekoration, hörte er zwar geduldig zu, sagte aber doch nichts anderes als sein ewiges: »Wenn du wirklich etwas gefunden hast, Jasper, geh in die Welt und erzähle den anderen davon.«
Dem Reiseritter Robert passierte es übrigens ständig, dass er Abenteuer erlebte, und wenn er am nächsten Tag wieder an dieselbe Stelle ging, dann war dort nichts Besonderes mehr, aber das sagte ich Lada nicht. Die Sehnsucht nach den Glitzerbändern an der Straße, das Ausmalen unserer Expedition dorthin, war das Erste, was wir wirklich teilten. Für viele andere Ereignisse, die das Leben in Pildau bestimmten, war sie auch nach einigen Jahren noch nicht im von mir gewünschten Maß empfänglich. Die Gespräche über die Hofstange und das Wetter weit oben, die Mangoldrezepte und Reden meines Vaters hatten auf sie nicht die Wirkung, die sie bei den Honigbrod-Männern hatten, für uns war ein Tag ohne diese Programmpunkte ganz ungelebt und nicht voll da. Nicht mal für ein baldiges Enttarnen der unsichtbaren Schleie konnte sich Lada so recht begeistern. Sie machte mit, aber immer sah man ihr gleich an, dass sie auch wieder damit aufhören würde. Sie war schnell gelangweilt, während doch alle anderen Menschen, die ich hier kannte, seit jeher das Gleiche machten, ohne auch nur ansatzweise gelangweilt zu sein.
Unseren Geburtstag feierten wir zusammen, schließlich war Lada an meinem Geburtstag zu uns gekommen, erinnerte sich an nichts, und alles andere wäre wirklich lächerlich gewesen. Der Einfachheit halber wurden wir auch immer gleich alt. Ich hatte nichts dagegen, zumal die Geburtstage auf Pildau ohnehin nichts mit den Spektakeln zu tun hatten, die die Welt darum machte. Der Zuckerkaffee war etwas süßer, die Pfannkuchen hatte der Großvater mit besonders viel Dotter gemacht und für uns Blütenblätter eingebacken (meistens nur Gänseblümchen, schließlich war es April), und mein Vater schleppte im Lauf des Tages etwas aus seinen Arbeitsräumen heran, das ganz willkürlich ausgewählt schien und für das es meistens einer langatmigen Hinführung bedurfte, an deren Ende er kichernd zu sagen pflegte: »Jetzt wisst ihr immer noch nicht mehr über euer Geschenk, nicht wahr, aber auf höherem Niveau.« Das war es meistens. An unserem zehnten Geburtstag bekam Lada auf diese Weise eine hübsche Hutschachtel ohne Hut und ich einen Globus, auf dem aber nicht alle Länder und Kontinente verzeichnet waren, wie mein Vater in der Begleitrede verriet, und zwar aus dem einfachen Grund, weil es ein sehr alter Globus und die Welt damals eben noch nicht ausgewachsen war, genauso wie wir – deswegen wäre es ja wohl das perfekte Geschenk für einen Zehnjährigen. Nun, das war so seine Art, die Dinge hinzudrehen.
Am Morgen war ein wenig Durcheinander gewesen, denn der Großvater hatte vergessen, die Dotterpfannkuchen zu machen. Ich hatte ihn gerade erwischt, wie er in seinem Blauzeug an der Tür in die Stiefel schlüpfte. »Na, Jasper, machen wir heute noch mal Holz?«, sagte er in der ungelenken Zerstreuung, die jeden großgewachsenen Menschen befällt, der versucht, stehend in seine Stiefel hineinzukommen. Ich fand das lustig, sagte wohl
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