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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Scharnigg
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gebastelt, das war doch eine zu komische Vorstellung. Heute kann ich diese Vorkommnisse mit der Grenze und den Inhalten der Päckchen leicht in Zusammenhang bringen, aber das wussten wir noch nicht. Es war die Zeit, in der wir die Wege der Kindheit noch gingen und uns jederzeit zurückfallen lassen konnten, während gleichzeitig das Neue Stück für Stück weiter aus den Nebeln kam. In den Stunden, die wir im Lager waren, gab es viele, in denen Lada nur in ihr Buch starrte. Dann wieder war sie zum Spielen aufgelegt. Das bedeutete, sie begann mich mit etwas zu reizen, fragte mich aus oder gab mir Aufgaben, die ich zu ihrer Zufriedenheit erledigen musste. Das fand ich nicht übel, gern streunte ich nach Heidelbeeren für sie oder gab ihr einen von meinen Schätzen, nur die Glitzerbänder behielt ich. Ganz selten sahen wir uns auch zusammen die Hefte an. Dann war Lada wie früher, als wir Schule in meinem Zimmer hatten, und erklärte mir, was es mit den Damen auf sich hatte und auch mit den Herren. Sie hatte das wohl von der Lene-Mama, oder ich weiß nicht. Jedenfalls wusste sie noch andere Geschichten als die, die dabeistanden. Wir hatten eine Lieblingsdame, die laut Beschreibung Sandra hieß und achtzehn Jahre alt war. Sie hatte ganz kleine Beutel, nicht so wie die anderen, das fanden wir gut. Außerdem stand sie vor einem Bücherregal, was uns vertraut war. Ich musste mit dem Finger auf Sandra auf und ab fahren, Lada sagte die Körperteile auf, und ich zeigte sie. Wenn ich das schreibe, klingt es nach einem ziemlich stumpfen Spiel, aber das ist ein Irrtum, es war ausgesprochen schön.
    »Was schreibst du eigentlich in dein Tagebuch?«, fragte Lada eines Tages, wir hatten kleine, süße Erdbeeren gefunden und sie auf Grashalmen aufgefädelt. Ich sagte, ich schriebe, wie die Schleienfütterung verlaufen war, was die Hofstange für einen Eindruck machte, wovon das neue Buch handelte und wie die Musik klang, die ich an dem Tag gehört hatte. Es klang nämlich jeden Tag anders, was auch daran liegen konnte, dass ich die Bänder nicht immer ordentlich eingelegt bekam. Was ich über Lada schrieb, sagte ich nicht. Es war vielleicht erst meine zweite Lüge, und sie fühlte sich überaus vernünftig an. Denn es waren keine besonders klugen Betrachtungen, eher Bewegungsskizzen. Wo Lada gesessen hatte, was sie trug, wie lange sie ihre Tür verschlossen hielt und wie es roch, wenn ich mich kurz in ihr Zimmer geschlichen hatte.
    »Schreibst du auch über mich?«, fragte Lada. Ich gab mich beiläufig, dabei fiel mein Blick auf das Heft mit Sandra am Bücherregal, und schon wusste ich nicht mehr, wo ich hinsehen konnte. Lada ließ mich ruhig alle Fluchtwege ausprobieren. »Du bist in mich verknallt«, stellte sie nüchtern fest. Das Wort klang zu gleichen Teilen treffend und verkehrt. Ich weiß bis heute nicht, woher Lada eigentlich ihr Vokabular zog, von Tolstoi kam es jedenfalls nicht. Vorsichtshalber stritt ich das ab, was sie gesagt hatte, aber nur mit halber Kraft. Im Grunde wollte ich alles, wie sie es auch nannte, wenn es nur eben jenes »Wir zwei« bedeutete, das ich unablässig wälzte.
    Lada gluckste vergnügt, dann tippte sie auf Sandras Beutel und sagte: »Das geht nicht. Wir sind Geschwister.« Ich verstand nicht, was sie meinte, aber das kannte ich schon von meinem Vater. Ich sagte nichts und lächelte sie nur so weit an, dass sie es auch als normalen Gesichtsausdruck nehmen konnte. Dabei flog ihr doch alles von mir zu. »Schreibst du noch was anderes?«
    »Ein Buch, meinst du so was?«
    Sie nickte halbhoch. Was für ulkige Sachen sie dachte. Ich schrieb kein Buch, ich war mit meinen Einträgen ins Tagebuch immer bis tief in die Nacht beschäftigt, um ein paar Sätze in die Linien zu bekommen. Außerdem, ginge es nach meinem Vater, musste jeder, der ein Buch schreiben wollte, erst mal alle Bücher von allen anderen gelesen haben. Oder so ähnlich.
    Das trug ich vor, aber Lada wischte es weg. Keiner der großen Dichter hätte das gedacht, so dächten vielleicht Wissenschaftler, aber keine richtigen Schriftsteller. »Ich schreibe natürlich auch richtig«, sagte sie als Letztes. Ihr Ernst bei der Sache war toll, sie war aufgesprungen und hatte die siedenden Augen. Was sie nicht verstand, war, dass ich ihr auch ohne diese Szene applaudiert hätte. Da war einfach nichts, was ich nicht tun würde, solange es sie enthielt.
     
    Das Ziellose, das mit der Himmelfahrt des Großvaters auf Pildau eingezogen war, ähnelte in

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