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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Scharnigg
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Frühling und brachte uns sehr ordentlich durch. Sie schloss sich mit Lada in ihrem Zimmer ein, und in der Folge malte sich Lada zwei schwarze Ringe um die Augen. Lene hörte mit mir in der Kapelle Musik, ich spielte ihr alle neunzehn Liedfetzen vor, die ich bisher gesammelt hatte, und bei jedem einzelnen musste sie mir ganz genau sagen, ob es Lada wohl gefallen würde. Aber trotzdem war sie nicht mehr ganz da, es war mit ihr, als wäre man im letzten Kapitel einer Geschichte, ein Gefühl, das ich nicht besonders mochte. Jeder, der ein Buch liest, weiß, wann die Geschichte zu Ende geht, die Finger, die das Buch halten, verraten es, und es war genau das Problem, das ich mit dem Übergang von Tag und Nacht und Sommer und Winter hatte. Wann immer mir die Bücher in der Hand weniger wurden, las ich langsamer und zögerte jede Seite hinaus, bis ich dazu überging, die Enden einfach gar nicht mehr zu lesen. Ich legte die Bücher vorsichtig zur Seite, sobald mir der Buchdeckel rechts zu nahe kam, und behielt die Geschichten so, wie sie waren, unvollendet und richtig.
    Mit der Geschichte der Lene-Mama war es auf einmal, als wäre sie nur noch ein paar Seiten dick, alle im Haus merkten es, und wir blätterten sehr vorsichtig. Ich konnte sie immer wieder von hinten umarmen und ihr ins Ohr flüstern, wie lieb ich sie hatte, nie gab sie dabei die neue Scheu auf, die bislang immer irgendwo in den Maisfeldern liegengeblieben war, aber eben nur bis zu dem Tag, an dem Max Honigbrod sie vergessen hatte. Ihn schien das alles deutlich mitzunehmen. Die Haare standen ihm jede Woche neu und weniger ab, seine Kordhosen und Pullover hatten überall Fitzel hängen, Stroh und Papier, er verbrachte die Nächte in seinen Sesseln und die Tage zwischen den Stapeln und laut vorgedachten Kapitellisten für »Das Korn«.
    Was Lene noch für uns tat, geschah mit der Gründlichkeit der Biologin. Sie sortierte die Küche neu, sichtete, was der Großvater an Sämereien und Vorräten übrig hatte, sie schrieb Einkaufslisten, die jeden Monat zu erledigen wären, und ließ Lada und mich nicht mehr gemeinsam duschen. Als sie fuhr, versprach sie, sich um unsere Schule zu kümmern. Wir standen auf der Treppe, zu dritt nur noch, und der Regen lief in feinen Bahnen die Hofstange entlang. Mein Vater hielt keine seiner schönen Abschiedsreden, Lene hatte uns allen nur die Hand gegeben, und als wir ins Haus zurückgingen, konnte ich nicht anders, als ihm einen satten Schlag in die Seite zu verpassen, was uns beide sehr überraschte. Es war einfach so, weil ich nicht wusste, wohin mit der Wut und der Faust. Er setzte sich auf den Boden im Flur, die Sommeraugen waren unendlich müde. Dann erklärte er mir das mit den Frauen, die es auf Pildau leider nicht besonders lange aushielten, es wäre so beinahe Tradition. Ich schluckte und nickte tapfer, aber das war die erste Tradition hier, die mir gar nicht gefiel.
     
    Meine Tagebucheinträge der nächsten Monate sind sich allesamt ziemlich einig in ihrer Sorge um Lada. Sie war eine Frau, nahezu, und sie durfte keinesfalls auf die Idee kommen, die unselige Tradition gelte auch für sie. Schließlich war es das, was ich ihr bei jeder Umarmung zugeflüstert hatte, als ich sie noch täglich umarmen durfte (das galt nicht mehr, seit sie sich die schwarzen Ringe um die Augen malte). Es war: »Wir zwei.« Sie hatte nie etwas darauf erwidert, und das nahm ich als stilles Einverständnis. Wir gingen immer noch an die Straße, aber es waren nicht mehr die gemeinsamen Ausflüge, jeder suchte für sich, und am Ende verglichen wir, wer was hatte. Wir waren nur auf der Ostseite, es war ergiebiger und geheimnisvoller. Die Päckchen und Tüten mit den Tabletten und Pulvern horteten wir oben am Waldrand, es war beinahe wie eine Währung für uns. Am liebsten hatten wir die Tabletten und die winzigen Flaschen mit dem goldenen Wasser, die galten am meisten. Die Pulver machten nicht viel her, genau wie die bröseligen Radiergummis, die wir in Zeitungspapier eingeschlagen fanden. Die Lastwagen hupten jetzt, wenn sie Lada am Straßenrand sahen, und einmal fiel uns eines der Päckchen direkt vor die Füße. Bislang war ich davon ausgegangen, dass wir die Reste jahrelanger Ladungsverluste einsammelten, aber wie es schien, warfen die Fahrer die Sachen einfach hinaus, wie eine Flaschenpost, nur eben ganz widersinnig. Es war weder eine Botschaft darin, noch war es Abfall, sie hatten mit ihren großen Händen diese lächerlich kleinen Kuverts

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