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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Scharnigg
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im Arm aus ihrem Zimmer kam, sah sie anders aus. Ihre Haare waren immer noch rotes Wellenhaar, nur rahmten sie das Gesicht anders, ihre Arme waren lang, und das Auffälligste waren die Schritte. Sie ging wie eine Erwachsene, wie die Lehrerin, wie die Lene-Mama, sie setzte die Füße irgendwie gewählt, und wenn ich jetzt nach ihr rief, zog sie die Oberlippe eine Winzigkeit nach oben, drehte den Kopf ein bisschen langsamer und sah mich an, als wüsste sie schon, was ich wollte. Ich fand das toll und teilte ihr meine Beobachtungen mit, aber sie sagte nur: »Gehst du jetzt wieder allein ins Lager und schaust dir alles genau an?« Das war gemein, auch wenn Lada sicher nicht wusste, dass ich mit den Damen aus den Heften noch ganz andere Nöte hatte. Seit jenem Nachmittag war ich nicht mehr oben gewesen. Die ersten Tage hatte ich die Damen direkt für das Geschehen verantwortlich gemacht. Hätten sie mich nicht verfolgt, wäre ich nicht zu ihnen gelaufen und hätte auf den Großvater aufpassen können. Ihre Schenkel und Beutel hatten mich so abgelenkt, ich war ja gar nicht mehr richtig dabei, als ich mit dem Großvater das letzte Mal im Garten saß, eine Sache, die mir im Rückblick ganz unverzeihlich und schlimm erschien. Was, wenn er die Steigeisen nur genommen hatte, weil ich nicht mehr so ganz sein Freund war? Die Erwachsenen waren ja sehr empfindlich in solchen Sachen, das wusste ich schon, es stand auch überall in den Büchern. Die gemalte Haut statt Mangold mit dem Großvater, das war sie nun, meine erste eigene Honigbrod’sche Fehlentscheidung.
     
    Ich schwor mir, die Damen fortan mit Missachtung zu strafen, und verbrachte die Tage nur mit meinen Glitzerbändern. In einer alten Schublade sortierte ich die Aufnahmen. Nicht danach, wie ich sie am liebsten hörte, sondern wie es Lada am besten gefallen würde. Diese beiden Dinge gehörten zusammen, das sah ich klar, weil es die beiden größten Unaussprechlichkeiten in meinem Leben waren. Der Taumel und das Fieber dieser seltsamen Musik, von der ich jeden Ton auswendig kannte, und die plötzlich erwachsene Lada, die mich immer mehr reizte, je inniger sie sich ins Zimmer schloss. Irgendwann würde ich beides zusammenbringen, der einen das andere zum Geschenk machen und mit stiller Freude das Ergebnis genießen. Jedenfalls, wenn fortan eine der Damen aus den Heften mir in Gedanken ihre gemalten Beine hinstreckte, riss ich die Augen weit auf und dachte an das leer hängende Blauzeug des Großvaters. Es half immer.
     
    Unsere Schule zu vergessen war Max Honigbrods Versäumnis, aber es war noch nicht das schlimmste. Er hatte auch die Lene-Mama vergessen, und als sie im November eines Tages wie immer früh vor der Tür stand und leise klopfte, war ich mir sicher, sie hätte von der Himmelfahrt des Großvaters längst erfahren. So fiel ich ihr mit einem erleichterten Seufzen um den Hals, denn die Versorgungslage in Pildau war tatsächlich in eine schwierige Phase getreten. Ein früher Frost hatte den ungeernteten Mangold im Garten umgelegt, unsere Karotten waren einer Wühlmaus zugefallen, die es verstanden hatte, die Wülste oben dick und unversehrt zu lassen, aber wenn man sie zog, hielt man nichts als einen traurigen Rest in der Hand. Mein Vater hatte diesen Tatbestand aufgedeckt und von einer Potemkin’schen Wühlmaus gesprochen, was wiederum Lada aus dem Zimmer gelockt hatte, die neuerdings alles Russische akribisch sammelte. Das und manch anderes also lag in meiner verzweifelten Begrüßung an Lenes Hals. Auf ihre atemlosen Fragen dann war ich allerdings nicht vorbereitet und stand recht tropfig dabei, als sie in der Küche wieder kehrtmachte und unter die Stange lief. Sie weinte nicht, aber sie wurde ganz still, was mir etwas unheimlich war, weil sie ja ohnehin immer still war und nun also noch stiller, richtig fest drückte sich alles bei ihr. Mein Vater, der dank der angelehnten Tür etwas mitbekommen hatte, eilte heran, im Zustand dringlicher Unterwerfung. Er beruhigte, umarmte und versprach in hellen und klaren Worten, wie ich es noch nie an ihm gesehen hatte, aber die Lene stand einfach klein und dunkel am Fuß der Hofstange und ließ sich nicht anfassen.
     
    Ich weiß nicht, ob sie sich wirksam versöhnten, aber ich bezweifle es, denn in meinen Tagebüchern findet sich seit diesem Moment wenig von den beiden zusammen. Es begann in diesem Winter, dass die Lene nicht mehr recht bei uns war. Das ist schwer zu beschreiben, denn eigentlich blieb sie bis zum

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