Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
wo der Bus in den nächsten Ort ging. Fast genau ein Jahr war der Großvater jetzt auf der Stange, aber er konnte uns nicht sehen an diesem Tag, wie wir standen und warteten, denn es waren tiefe Wolken im Weg. Mein Vater hielt eine beschleunigte Abschiedsrede, die erst begann, als der Bus um die Kurve bog, und abrupt endete, als die Türen hinter Lada zuschlugen. Da stand sie und sah uns durch die Scheibe an, wie sie die restlichen Honigbrods fortan anzusehen pflegte: mit wohlwollender Distanz.
Diesen Abend, an dem wir nur noch zu zweit saßen, an dem uns das leise Atmen der Lene-Mama so fehlte, die Pfeifenstopfer des Großvaters und das rote Wellenhaar, sehe ich genau vor mir. Weil alles andere schon gesagt war und die Tür zu seinem Arbeitsstall seit Tagen offen stand, begann mein Vater die eine Geschichte zu erzählen, die ich von Pildau noch nicht kannte.
Max Honigbrod und die Schlaflosigkeit in kleinen Städten
Als Max Honigbrod eines Mittags wieder nach Pildau zurückgekehrt war, hatte er im Gepäck nichts als den Schmerz über seine Frau. Er hatte sie sterben sehen, und auch wenn die ärztlichen Unterlagen die Geschichte ein wenig anders erzählen, so war sie genau in dem Augenblick gestorben, in dem der nasse Säugling in einem Sturz aus Blut in die Welt gefallen und von der Krankenschwester eilig gepackt worden war. Max war hilflos danebengestanden, überwältigt von den Ereignissen. Er trug in diesem Moment in den Händen noch ein Stück blauer Wäscheleine, an der er seinen Sohn hängen lassen wollte, nur weil er gelesen hatte, dass Säuglinge gleich nach der Geburt einen erstaunlichen Greifreflex in beiden Händen haben. Die Neugeborenen bei manchen Naturvölkern werden deswegen bis heute aus dem Leib der Mutter an eine Leine gehängt, wo sie sich ganz ruhig putzen und untersuchen lassen. Ein dergestalt spektakulärer und wissenschaftlich durchaus interessanter Einstand im Leben schien ihm angemessen für einen neuen Honigbrod, deswegen hatte er die Leine dabei. Während er aber am Ende dieser fürchterlichen Liege in diesem fürchterlichen englischen Krankenhaus stand, in dem seine Frau verblutete, zog er die Schnur immer weiter um beide Handgelenke und so fest, dass sich die blaue Farbe des Kunststoffs weiß verfärbte. Er wusste nicht, was vor sich ging. Er wusste nur, dass hier alles unrichtig war. Nichts stimmte. Das Blut war zu rot, die Pfütze unter der Liege machte niemand weg, ganz einfach, weil sie nicht vorgesehen war, die beiden Ärzte kamen zu spät, ihre Bewegungen waren gleich viel zu ungenau, die Stimme der zweiten Krankenschwester war zu laut. Als sie alle drei nach Blutbeuteln riefen, stand Max Honigbrod mit den zu Klumpen strangulierten Händen immer noch genau an der Stelle zwischen dem Fenster und dem Kopf seiner Frau, die ihn nur in diesem einen Moment, in dem Jasper aus ihr herausgesprudelt war, noch einmal angesehen hatte. Danach hatte sie die Augen verdreht, und alles, was noch an Farbe in ihrem Gesicht gewesen war, hatte sich auf den Fliesen des Klinikbodens verteilt.
Max blieb, wie er sich hingestellt hatte vor zwei Stunden, aber in einer längst vergangenen Zeit. Einer Zeit, in der alle Dinge noch ihre Richtigkeit gehabt hatten, wie sie immer in seinem Leben richtig geraten waren. Er hatte nach dem überraschenden Abschied von Pildau eine gute Schulzeit gehabt, und die Reize des Neuen überlagerten bald das Weh, mit dem er bisweilen an den Vater und die wunderschöne Erntemaschine dachte. Wo er in der neuen Welt hinkam, umgab ihn ein Hauch des Exotischen, den er von Anfang an pflegte und der ihn bei Lehrern und Mitschülern zu einer geachteten Partie machte. Man erzählte sich Geschichten über ihn, die größtenteils jeglicher Grundlage entbehrten, die Max aber immer wieder geschickt anspitzte und in die Umlaufbahn schickte. Er lernte nicht wie seine Mitschüler, er bewegte sich einfach in dem Wissen, das überall in dieser wunderbaren Schule so großzügig zur Verfügung stand, und er ging darin immer weiter, niemand hielt ihn auf. Je schwieriger etwas wurde, desto freudiger nahm der Schüler Honigbrod die Herausforderung an, er tanzte mit Mathematik und Naturwissenschaften, genau wie er mit den Dichtern und Philosophen flüsterte, er zog alles auf sich, und es wurde ihm nie zu schwer, nur die Musik ließ er aus. Nicht, weil er sie gering achtete, er wusste nur, dass er darin verlorengehen würde, sein Charakter war in dieser Richtung etwas empfindsam. So enthob er sich
Weitere Kostenlose Bücher