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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Scharnigg
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hörte und auch Lada vorspielte, war von zwei Männern, die sehr weich und nett klangen und eine Art Geschichte erzählten, von der ich nichts verstand.
    Ich schleppte den Koffer mit dem Lied vor die Engel-Oliven-und-Wein-Tür. Sie war nur angelehnt, auch das war neu, als wäre es mit einem Mal egal, wer wo war. Ich fand meinen Vater am Schreibtisch, er sah mich würdevoll mit wochenlang ungewaschenen Haaren an. »Jasper, es hat begonnen.« Ich hatte aber keine Zeit für seine Reden und suchte eine Steckdose für mein Lied, das schöne Lied mit den beiden sanften Männern und ihrer Geschichte. Das war nicht die Reaktion, die mein Vater auf seine Eröffnung erwartet hatte. Er baute sich vor mir auf und nahm noch mal Anlauf: »Ich schreibe es. Es ist die höchste Zeit, die Harmonia Caelestis.«
    Erst jetzt sah ich den Stapel Papier neben der Schreibmaschine, alles andere war vom Schreibtisch verschwunden. Eine Seite war eingespannt, in die Mitte hatte er in Großbuchstaben »Das Korn« als Titel gesetzt. Darunter stand »Von Max Honigbrod«. Und etwas weiter unten: »Gewidmet dem Wiggerl von Pildau«. Dann war nur noch weißes Papier. Er schrieb also sein Buch, ich hörte Glitzerbänder, und Lada las, das war unsere Art zu trauern. Ich spielte ihm mein Lied vor, und das Ergebnis war doch etwas überraschend. Nach dem ersten Hören ging Max Honigbrod nervös und in sehr großen Schritten an den vier Grundseiten seines Stalls entlang, genau wie Menschen es tun, die mit ihren Schritten Meter messen wollen. Als das Lied ausleierte, rief er nur: »Noch mal, noch mal!« Ich jagte das Band zurück, man musste sehr vorsichtig sein, damit es nicht einriss. Den zweiten und dritten Durchlauf absolvierte er steif ans Regal gelehnt, beim vierten Hören sank er in einen Sessel und schluchzte ein bisschen.
    »Es ist schön«, sagte er danach. »Sehr schön, aber bitte, Jasper, nimm es wieder mit, es, ehm, gefährdet meine Arbeit hier. Weißt du, ich habe die Musik immer gemieden, wenn ich arbeite, sie ist so, ehm, nah.« Er ließ vage den Finger kreisen. Da fiel mir auf, dass in seinem Radio immer nur Sprecher wohnten und nie Musik.
    »Aber was erzählen sie?«, fragte ich, während ich den Tonbandkoffer packte.
    »Parsley, Sage, Rosemary and Thyme«
, sagte mein Vater.
    »Ist das so was wie
Engel, Brot, Oliven und Wein
?« Es klang so.
    Er sah mich an, als hätte ich ihn aufgeweckt. Lange. Dann: »Ja, genau das ist es.«
     
    Von da an gingen die Dinge in Pildau durcheinander. Ich denke, es gibt in jedem Leben eines Elfjährigen einen Zeitpunkt, an dem ein Knoten nicht mehr rechtzeitig zu lösen ist, bevor andere Knoten dazukommen, jedes Jahr ein paar, und das führt bald zu einem Geflecht, in dem man sich hoffnungslos verwickelt, so lange, bis man nicht mehr vor und zurück kommt und dankbar dafür ist, dass wenigstens die Zeit von selbst vergeht. Über dem Großvater war unser weiterer Bildungsweg vergessen worden, das Schuljahr hatte ohne uns begonnen, und Lada und ich nahmen es gern so hin. Es wäre bestimmt möglich gewesen, denke ich heute, trotzdem noch Plätze für uns zu finden, aber mein Vater war in Belangen des Alltags zunehmend träge, das lag wohl an dem entstehenden Buch, das ihn sehr mitnahm. Er kam jedenfalls über unsere unfreiwillige Schulpause erstaunlich leicht hinweg. Die Gutenmorgengeschichte, der einzige Tagespunkt, den er noch einhielt, wurde noch ein wenig pädagogischer, und statt eines Abendunterrichts kündigte er an, er werde die Fortschritte seines Buches mit uns teilen, das schließlich irgendwann alles Wissen bereithalte, das er zu geben habe. Was mir erst jetzt und unter dem Eindruck der jüngsten Erlebnisse auffällt, ist, dass er nie aus seinen Manuskriptblättern las, sondern sich darauf beschränkte, uns Passagen aus den Büchern zu lesen, die er an dem jeweiligen Tag gefunden hatte. Es waren Lesungen von höchst unterschiedlicher Qualität. Manches nahm uns so mit, dass wir uns das Buch sofort ausliehen, was er mit Bedauern geschehen ließ. So kam Lada in den Besitz ihres ersten Tolstois, es war »Der Tod des Iwan Iljitsch«, und sie las ihn in zwei Tagen.
    Ich bin nicht sicher, ob es für eine Elfjährige das Richtige ist, Klassiker des russischen Realismus ohne Aufsicht zu lesen, aber die Sache war die: Lada war keine Elfjährige mehr. Es war irgendwo zwischen diesen Tagen geschehen, in den Nächten an der Stange vielleicht, oder ich hatte es erst jetzt bemerkt, aber als sie mit dem Tolstoi

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