Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
Ungewisse. Sie schwärmte schon von ihrem Zimmer, das zu einer richtigen Stadt gehören würde, sie würde Essensrekorde aufstellen, und mit großem Ernst sagte sie eines Abends, sie würde wahrscheinlich auch in den Ferien dort bleiben. Diese Mitteilung bedeutete wieder eine Stunde wütendes Schütteln in der Kapelle, was mir ungelegen kam, denn ich hatte noch so viel mehr zu tun. Ich musste alle Mutproben absolvieren, die Schwalbe besuchen, mit der Schleie den allerletzten Versuch eines Kennenlernens unternehmen, ich musste ins Lager und mit Lada in den Mais, und ich wollte, das fiel mir eines Nachts ein, noch einmal bei ihr Ameise spielen, aber sie ließ mich nicht. »Das kitzelt«, sagte sie nur und zog meine Hand weg.
Unser Lager tropfte vom Morgentau, der sich im Herbst bis weit in den Tag hielt. Unten zogen Audigaudi und BMWtutsoweh, die Straße war immer gleich, und ich wünschte mich hin. »Warum machst du das eigentlich immer, dieses Runterfallen von der Birke und das mit den Steinen?«
»Das sind meine Mutproben«, sagte ich mutlos.
»Hu, das sind doch keine Mutproben. Du warst doch sechs, als du die gemacht hast.« Sie war wieder laut. Aber was sie sagte, stimmte. »Du brauchst neue Mutproben«, stellte Lada fest. Sie nahm eines der Goldfläschchen mit der roten Kappe, es war kaum größer als ein halber kleiner Lada-Finger. »Das ist die neue Mutprobe.« Sie stellte mir das Fläschchen hin.
Es sah aus wie das Öl, das der Großvater benutzt hatte. Es roch aber anders, nicht nach Eisen und Farbe, dafür ganz leicht wie zwischen den Fingern geriebener Löwenzahn. »Du darfst dann auch einmal Ameise spielen«, sagte Lada.
Es war nur ein winziger Schluck, und wo die Flüssigkeit hinkam, brannte es. Ich merkte genau, wie sie in mich hineingluckerte, und zeigte es Lada, die sehr interessiert daran war. »Jetzt ist es da. Jetzt ist es da. Da. Da.« Es verteilte sich in meinem Bauch, aber gleichzeitig in meinem Nacken und unter den Augenlidern. Das war schwer zu erklären. »Jetzt ist es überall«, sagte ich so sachlich wie möglich und begann, so wie ich lag, zu zappeln. Es schien mir die einzig richtige Bewegung.
»Warum machst du das?«, fragte Lada befremdet.
»Es muss überall verteilt sein!«, schrie ich.
Sie lachte schnappend. »Wie du redest.«
»Wie denn?«
Ihre Antwort ging in meinem Zappeln unter, das sich jetzt anfühlte wie Flattern, ich hörte das Geräusch startender Enten, es ging Flap-Flap-Flap, noch nie hatte ich alle Gliedmaßen so schnell bewegt, trotzdem berührten sie sich nicht. Sogar meine Augen mussten mitmachen, alles war auf und zu, und ich konnte noch schneller. »Hör auf!«, rief Lada, aber das hätte ihr früher einfallen müssen. Ich war ja schon so weit in allem, au, ich war ja schon fast Entenstart. Dann traf mich etwas am Kopf, hart und klirrend, wie einen nur etwas am Kopf treffen kann.
Als ich wieder sehen konnte, war Lada über mich gebeugt. Lada wunderschön, Lada sorgenvoll.
»Was?«
»Du hast dich selbst ausgeschlagen.«
»Was?«
»Du hast ›Entenstart‹ gerufen. Immer wieder ›Entenstart‹. Und dann hast du dir die Faust ins Gesicht gehauen. Dahin.« Sie tippte vorsichtig auf die Stelle. Es schauerte scheußlich.
Auf dem Weg zurück fragte Lada, wie es geschmeckt hätte. Erst dann wusste ich wieder, das Fläschchen, die Ameisen. »Es ist am Anfang nur hier und hier und dann überall«, sagte ich und hielt die Stimme oben, damit Lada bloß nicht dachte, das wäre es schon. Es war ja viel mehr. Ich suchte lange nach den richtigen Worten, aber es kam nichts. Mein Blick fiel auf die Hofstange. »Als würdest du die Hofstange rauf und runter!«, sagte ich.
Lada nickte anerkennend. Das war eine echte Mutprobe. Leider verpasste ich an diesem Tag über meinem Zustand das versprochene Ameisen-Spiel. Am nächsten Morgen, als ich guter Dinge war, es einzulösen, blieb Ladas Tür auf mein Klopfen verschlossen. »Nicht heute«, sagte sie später und sah mich theatralisch an. »Heute geht es nicht.« Aber es ging gar nicht mehr, ich habe das immer noch offen, noch einmal Ameise bei Lada sein, und ich denke jeden Tag daran.
Meine eigene Zukunft war übrigens weit weniger Thema in diesen letzten Stunden des alten Pildau. Ich bekam einen komischen kleinen Lederkoffer von meinem Vater, er hatte Stifte und Papier hineingelegt, auf manches war schon etwas geschrieben, aber das schien ihm gleich zu sein. Ein Tag bevor die Schule anfing, brachten wir Lada ins Dorf,
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