Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
um seiner zukünftigen Karriere willen schon früh dem Schwelgen in Symphonien und dem Herumsitzen vor Tonbandgeräten und Plattenspielern. Nur gelegentlich, später in seinem Leben, wenn er betrunken nach Hause kam, las er Partituren zum Einschlafen, ging die Noten entlang und hörte ihnen nach, es war immer ein großes Orchester, das er in diesen Stunden dirigierte.
Das Leben im Internat war nicht übel, es war ganz darauf ausgerichtet, den Jungen so wenig Freizeit wie möglich zu geben, und das entsprach aufs trefflichste seinen Vorstellungen. Die Lockungen, an denen die anderen Jungen ständig herumdachten, die sie ausreißen und Strafen kassieren ließen, hatten für ihn allesamt keinen großen Reiz. Seine Abenteuer lagen sämtlich im nächsten Regal der Bibliothek oder in einem gelegentlichen Ausflug in die Antiquariate der Stadt. Stuart hatte ihm ein monatliches Büchergeld eingeräumt, lächerlich wenig, wie Max fand, aber er bewerkstelligte damit trotzdem beachtliche Zukäufe, vor allem seit er sich darauf verlegt hatte, bei Wohnungsräumungen und Umzügen aufzutauchen und anzubieten, die Bücherbestände zu lichten. In einem Städtchen wie Eton, das sich seit einem halben Jahrtausend der Wissensmehrung verschrieben, das die fleißigsten Professoren und großzügige Mäzene angezogen hatte, wartete durchweg Erstaunliches unter den Dächern und in feuchten Remisen. Er kaufte alles, was einen Einband hatte, sein Zimmer, das er mit einem anderen Stipendiaten ohne jegliche Leidenschaft teilte, glich nach wenigen Jahren einem Buchkontor und Lager, und nichts anderes waren die Bücher: wertvolle Lebensgrundlage. Mit siebzehn legte er erstmals ein umfassendes Verzeichnis seiner Bibliothek an, und als er in die Universität nach Cambridge umzog, waren es drei ganze Wagen voller Bücher, die er abholen lassen musste.
Die Universität selbst war in allem die Erweiterung zu Eton. Die Geschichten, die man sich dort von den Ehemaligen erzählte, waren geistreicher, die Liste der sportlichen Betätigungen noch um einiges kurioser und die Studentenklubs, die politischen Runden, die geheimen Zirkel und Bünde so zahlreich, dass man allein Jahre damit verbringen konnte, ohne je einen Hörsaal zu betreten. Max warf sich hinein, er war überall und bald über sein College hinaus bekannt, er verkehrte in allen möglichen Häusern, war Präsident des Debattierklubs und gab mit zwei Freimaurern eine satirische Denkschrift namens
The Grain
heraus. Als Max dazustieß, war es ein Monatsblatt, er entschied noch am ersten Nachmittag in der Redaktion, eine wöchentliche Erscheinungsweise wäre unbedingt angemessener.
The Grain
wurde im zweiten Trimester verboten, was die Beliebtheit des Heftes noch steigerte, allein Max schrieb darin unter vier verschiedenen Pseudonymen. Er traf bei seiner Arbeit herausragende Geister, die über ein gewinnendes Lachen und eine eiserne Faust an den Ruderskulls verfügten und mit denen er waghalsige Radpartien unternahm. Das Schönste war, dachte er insgeheim während dieser fliegenden Monate, dass sie ihn, Max Honigbrod, als Bereicherung sahen. Sie hingen an seinen Lippen, wenn er mit dem leicht affektierten Englisch, das er sich zugelegt hatte, um jeden deutschen Anklang zu tünchen, über Politik und Mode sprach, wenn er geschichtliche Irrungen in aktuelle Debatten einflocht, mit einer Erinnerungsgabe, bei der ihm keiner folgen wollte, die aber jedem Zuhörer das Gefühl gab, bei der Verkündung großer Wahrheiten dabei zu sein. Er strahlte, alles um ihn herum strahlte, und als er seinen Abschied vom College nahm, war der Junge aus Pildau, dessen leiblicher Vater ein Holzknecht aus dem nächsten Dorf gewesen war, nicht nur unter den Jahrgangsbesten, sondern selbst Teil jener Anekdoten über die Universität geworden, die er von Anfang an so genussvoll aufgesogen hatte.
Er hatte einen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften und einen in Kunstgeschichte, das schien ihm ein ausreichend großer Horizont zu sein, auch wenn sich ihm vier oder fünf andere Studiengänge als gleich gut angeboten hätten, die er nebenbei verfolgte. Er schrieb einen vielbeachteten Aufsatz über die Arbeitsliaison von Henry Harland und Aubrey Beardsley und legte wenig später eine Studie vor, die er initiiert hatte, um eine Theorie zu überprüfen. Dabei ging es um die Frage, wie der menschliche Körper seinen Energiehaushalt unter Belastung optimiert, Honigbrod sagte voraus, dass Nahrungsaufnahme, die gleichzeitig mit hoher
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