Vorn
wahrscheinlich war es wirklich so. Dennis und er hatten in den Monaten vor
der Trennung fast nur noch in diesen Typologien gedacht. Im Nachtleben perfektionierten sie eine Art detektivische Analyse.
Wenn sie freitags nach dem Schumann’s und samstags in die Clubs gingen, |190| ins Café der Muffathalle zu »Into Somethin’«, in die Mandarin Lounge oder ins Atomic Café, standen sie mit einem Bier in der
Hand am Rand der Tanzfläche und beobachteten die anwesenden Mädchen. Das Spiel bestand darin, anhand von Kleinigkeiten an
ihrer Erscheinung Aussagen über sie zu treffen, über ihr Studienfach, ihren Charakter, ihre Biografie. Dennis war ein unübertroffener
Meister in diesen Analysen, und er brauchte nur ein Mädchen mit perlmuttfarbenen Ohrclips zu sehen und einer Baseballkappe
auf dem Kopf, durch die ein blonder Pferdeschwanz gesteckt war, und er sagte Tobias ins Ohr: »Schau mal, da drüben an der
Wand, die Gelangweilte. KW-Studentin, bisschen langsam, Praktikum im Marketing bei DSF, wesentlich älterer Freund mit Geld.«
Die Auflösung, oft verblüffend nah an der Wirklichkeit, holten sie sich später bei einem der DJs oder Clubbesitzer, die in
der
Vorn
- Fußballmannschaft mitspielten und die meisten Mädchen im Raum kannten. Dennis war es auch, der eines Sommerabends die Faustregel
ausgab, dass Mädchen mit Ring am Daumen notwendigerweise auch einen am Zeh tragen würden. Da die Mode, auch im Nachtleben
Flip-Flops anzuziehen, gerade aufkam, konnten sie ihre Schlussfolgerung sofort überprüfen: Und was für ein Triumph war es
dann, wenn sich die Annahme wirklich bestätigte! Es gab für diesen kurzen, von wenigen Indizien auf das Ganze schließenden
Blick einen eigenen Ausdruck unter ihnen. Im
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sprachen sie davon, jemanden zu »scannen«, wobei sich diese Methode nicht nur auf das sekundenschnelle Durchleuchten und Bewerten
von Menschen bezog, sondern etwa auch auf Texte in Zeitungen und Magazinen. »Hast du heute |191| schon das Feuilleton gescannt?«, fragte Dennis morgens häufig in der Redaktion, und dieser Ausdruck besagte, dass man nach
flüchtigem Durchblättern schon alles Wesentliche erkannt, das Überflüssige aussortiert und sich die interessanten Artikel
– gewöhnlich von befreundeten Autoren wie Johannes Veith, Felix Mertens oder Philipp Nicolai – für eine spätere Lektüre vorgemerkt
hatte. Am geläufigsten war aber das »Scannen« von Mädchen im Nachtleben, und Tobias malte sich jetzt voller Verzweiflung aus,
was wohl herausgekommen wäre, wenn sie Emily nach den Regeln des
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gescannt und klassifiziert hätten, wie die Kommentare über ihr Aussehen, ihre Kleidung, ihre Schuhe ausgefallen wären.
Als Tobias ein paar Tage nach diesem Einbruch in die Redaktion kam, hatte er sich vorgenommen, mit Dennis über seinen Zustand
zu reden. Seine Bürokollegen schienen auch bemerkt zu haben, dass es ihm wieder schlechter ging; sie glaubten, der Schmerz
wegen Sarah sei zurückgekommen. Nach der Mittagspause fand Tobias sogar ein Geschenk von Dennis und Anne auf dem Schreibtisch,
eine kleine Popcorn-Maschine. Am späten Nachmittag gingen die beiden noch kurz in den Helmut-Lang-Laden, um etwas im Winter-Sale
zu finden. Als sie auf dem Weg zurück das Treppenhaus des Redaktionsgebäudes betraten, entschloss sich Tobias, Dennis von
dem Vorfall mit Emily zu erzählen. Er zögerte. Sie hatten noch nie ein solches Gespräch miteinander geführt. Natürlich, sein
Liebeskummer wegen Sarah war immer mal wieder ein Thema zwischen ihnen in den vergangenen Wochen gewesen, aber darauf konnte |192| Dennis auch auf kumpelhafte Weise reagieren, mit Sätzen wie »Hey, wird schon wieder, lass dir die Laune nicht verderben« und
der Ermunterung zu einer weiteren Partie TippKick. Das Problem jetzt aber war massiver, betraf auch ihr Verhältnis zueinander
und konnte nicht mit bloßem Schulterklopfen behoben werden. Tobias fiel auf, wie seltsam das war: In den zwei Jahren, in denen
Dennis und er beim
Vorn
zusammengearbeitet hatten, waren sie zwar ständig beisammen gewesen, doch ihre Unterhaltungen, zu zweit oder im größeren Kreis,
hatten immer dieselbe Ausrichtung gehabt. Es wurde in diesen Runden allein über Journalismus geredet, über die Qualitäten
des aktuellen Heftes, über neue Themen, Reaktionen auf bestimmte Artikel, die Texte von befreundeten Autoren. Die Atmosphäre
war dabei getragen von der Begeisterung über die eigene Arbeit; sie
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