Vorn
stehen sah, sagte er ein wenig abfällig: »Ach echt, du trinkst noch aus solchen Dingern?« Irgendwann musste Tobias
begonnen haben – er marterte sein Gedächtnis, um den Moment genau zu rekonstruieren –, diese Abneigung zu teilen; auch für
ihn standen diese Schalen jetzt mehr und mehr für eine fragwürdige Umgebung, und wenn er tagsüber einen Kaffee trinken ging,
bestellte er nur noch Espresso oder Cappuccino in gewöhnlichen Tassen. Einzig mit Emily behielt er die alte Angewohnheit bei,
liebte die langen Frühstücke mit ihr (der Widerspruch fiel ihm erst jetzt auf), und Tobias durchfuhr mit Schaudern die Erinnerung
an einen Montagmorgen, vielleicht ein halbes Jahr vor seiner Begegnung mit Sarah, als Emily beim Lesen der neuen
Vorn -
Ausgabe auf einen despektierlichen Satz von Tobias über Milchkaffee |185| in Schalen stieß. »Tobi, was soll denn das, wir trinken doch auch seit Jahren aus Milchkaffeeschalen«, hatte sie damals irritiert
gesagt. »Machst du dich vielleicht lustig über uns?«
Einmal, als Tobias wieder kurz bei sich zu Hause war, entdeckte er in seinem Briefkasten die Vorabexemplare der neuen CDs
von Fugazi und Tortoise, den beiden Bands, die er am meisten mit Emily verband. Auf dem Radiorecorder in der Küche wollte
er die CDs, auf deren Erscheinen er schon monatelang gespannt gewesen war, kurz durchlaufen lassen, bevor er wieder zu Stefan
und Regina aufbrechen würde. Doch ihm war plötzlich die Fähigkeit abhandengekommen, Musik zu hören. So wenig war er sich im
Klaren darüber,
wer
da hörte, so sehr beschäftigte ihn die Gewissheit, dass er auch seinen Musikgeschmack an den
Vorn -
Kosmos verraten hatte, dass sein Auffassungsvermögen in diesem Moment wie zweigeteilt schien, als würde jedes seiner Ohren
für eine der konkurrierenden Welten in ihm stehen. Sein enthusiastischer Tortoise-Artikel im
Vorn
kam ihm in den Sinn, einer der ersten für die Kulturseiten des Magazins, den Robert damals über Tobias’ Kopf hinweg umgeschrieben
und mit einem distanziert-ironischen Grundton versehen hatte, weil ihm die Band »zu verkopft« war, wie er sagte, »zu
Spex -
mäßig«. Tobias dachte an die leichte Belustigung, die seine Vorliebe für Bands aus der amerikanischen Punk- und Hardcore-Tradition
ohnehin bei seinen
Vorn -
Kollegen ausgelöst hatte. Er warf sich vor, dass er seinen eigenen Musikgeschmack immer stärker unterdrückt und ihn gegenüber
den anderen Redakteuren schließlich fast |186| zur Marotte erklärt hatte. Dass die Musik, die er hörte, seitdem er fünfzehn oder sechszehn war, nicht zu dem Charakter des
Magazins passte, hatte er irgendwann stillschweigend akzeptiert. In seiner Anfangszeit war es noch manchmal vorgekommen, dass
er diesen Teil seiner Biografie im
Vorn
unterbringen wollte, mit seinen Artikeln über Undone oder andere Münchner Bands etwa. Als für die Doppelseite in der Mitte
des Heftes, die meistens aus einem großen Schaubild bestand, einmal eine Geschichte über die schönsten Plattenhüllen der Popgeschichte
vorbereitet wurde, brachte er die für ihn wichtigste Platte überhaupt in die Redaktion mit, die LP von Rites of Spring mit
dem Holzschnitt-Cover. Doch als die Redakteure vor dem Schreibtisch von Fanny von Graevenitz standen und die in Frage kommenden
Platten aussuchten, schauten ihn die anderen nur spöttisch an, als er neben die ganzen Britpop-, Soul- und Hip-Hop-Hüllen
seine Platte auf den Tisch legte. Die Entscheidung musste gar nicht ausgesprochen werden; die anderen übergingen seinen Vorschlag
einfach (»Oha, was haben wir denn da?«, sagte nur jemand belustigt) und setzten ihre Auswahl fort. Anne und Dennis hatten
das Spaßzimmer in der Zwischenzeit ohnehin zur »gitarrenfreien Zone« erklärt. Rasch kam Tobias deshalb, sosehr er auch sonst
die Themen im Heft mitbestimmte, gar nicht mehr auf die Idee, seine Bands ins Gespräch zu bringen. Er freute sich dagegen,
wenn er mit den im
Vorn
verehrten Platten dieser Zeit, DJ Shadows »Endtroducing«, Kruder & Dorfmeisters »DJ Kicks«, dem ersten Album von Propellerheads
oder den Britpop-Bands von Robert auch etwas anfangen konnte.
|187| Die Erinnerungs- und Assoziationssplitter prasselten pausenlos auf ihn ein in solchen Momenten; der Grundverrat, den Tobias
in sich fühlte, vervielfältigte sich in unzählige kleine Widersprüche. Er glaubte, amerikanische an britische Bands verraten
zu haben, Gitarren an elektronische Musik, die
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