Vorn
kritische Pop-Berichterstattung im
Spex -
Magazin an die spielerische im
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, gewöhnliches Mineralwasser an Volvic, Erdbeer-Margaritas, die er immer mit Emily getrunken hatte, an die Whisky Sours im
Schumann’s, die Chucks von Converse, jahrelang seine bevorzugten Turnschuhe, an New Balance, seinen alten Kleidungsstil an
die Journalistenuniform von Helmut Lang. Vor allem auch diese letzte Frage setzte Tobias zu, wenn er abends in sein Zimmer
im ersten Stock des Hauses zurückkam: Er hatte ein paar Hosen und Pullover dorthin mitgenommen, fast alle in dem Laden neben
dem Bayerischen Hof gekauft (nur die silbergraue Anzughose am Silvestertag in New York, in der Helmut-Lang-Boutique in der
Broome Street), und er hatte mit sich zu kämpfen, ob er die Sachen überhaupt noch tragen konnte. Als er zu Hause einmal in
einen seiner Anzüge schlüpfen wollte, die er in den Monaten zuvor regelmäßig getragen hatte, musste er ihn sofort wieder ausziehen.
Er glaubte plötzlich das Gefühl für sich selbst zu verlieren, sein Körper wurde vollkommen taub. Er hatte jetzt nicht mehr
die Spur einer Ahnung, was Dennis und er mit dieser Anzugsidee gewollt hatten. Tobias war gezwungen, die Entwicklung seines
Kleidergeschmacks immer wieder vor seinem Auge ablaufen zu lassen, sich zu überlegen, ob die Begeisterung für Helmut Lang
einen übermäßigen Bruch bedeutet hatte. Wie lächerlich kam ihm dieses |188| Gedankenspiel vor, das Hoffen auf die Linearität der eigenen Biografie – aber es war notwendig in solchen Momenten, es linderte
zumindest für einen Augenblick den quälenden Riss. Tobias klammerte sich nun ohnehin an jeden noch so vagen Berührungspunkt
zwischen den widersprüchlichen Sphären in ihm. Fast mit Genugtuung las er etwa einen Artikel über den amerikanischen Fotografen
Glen Friedman, den Anne gerade im
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veröffentlicht hatte. Sie interessierte sich allein für seine Freundschaft mit den Beastie Boys, seine Bedeutung in der Hip-Hop-Welt,
doch gleichzeitig wusste Tobias, dass er auch der Stammfotograf von Fugazi und anderen Gitarrenbands war. Eine ähnliche Erleichterung
verspürte er, als er auf dem Oberarm eines neuen
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- Autors
einmal eine große Tätowierung mit dem Logo der Band Black Flag bemerkte, die vier nebeneinanderstehenden Balken. Es gab also
noch andere, die amerikanischen Hardcore hörten und für das Magazin arbeiteten. Diese Überlegungen verschafften ihm kurzzeitig
Hilfe. Denn sie machten zumindest seinem Verstand für einen Moment klar, dass er nicht in komplett unvereinbaren Welten gelebt
hatte.
Am meisten aber setzte Tobias die Erinnerung an die ganzen Mädchen-Artikel im
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zu. Unzählige Typologien und Listen hatten Robert, Felix, Dennis und er über die Jahre hinweg erstellt; sie hatten Vornamen
klassifiziert, Frisuren, Modestile, den Inhalt von Handtaschen, die Ordnung von Kleiderschränken. Und die Gegenüberstellung
der verschiedenen Kategorien enthielt natürlich jedes Mal eine klare Wertung. Gefeiert wurde immer derselbe Typ Mädchen, den
sie sich als Leserin |189| erträumten und den Tobias in Gestalt von Sarah auch tatsächlich getroffen hatte: strahlende Geschöpfe Anfang zwanzig, sexy,
mit glamourösem Auftreten. Tobias verfiel fast in eine Art Panik bei der Vorstellung, dass Emily, der wichtigste Mensch in
seinem Leben bislang, nicht in dieses
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- Mädchenraster gepasst hatte oder – ein noch schlimmerer Gedanke – sogar einer der verächtlichen Kategorien zugeordnet worden
wäre. Weder von ihrem Alter noch von ihrem Aussehen und Kleidungsstil entsprach Emily diesem Typ; sie hatte Pädagogik studiert
und trug meistens weite Pullover und Hosen, weil sie mit ihrer Figur nicht ganz einverstanden war. Tobias wusste, dass er
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ständig ein bestimmtes Mädchenbild im Auge hatte und gleichzeitig mit einer Frau zusammen war (nicht einmal die Bezeichnungen
stimmten überein), die mit diesen Vorstellungen nichts zu tun hatte.
Emily war seine Faszination für den im
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gefeierten Mädchentyp von Anfang an nicht verborgen geblieben, aber sie hatte diese Schwärmereien – wie sie ihm einmal fassungslos
in der Zeit der Trennung gestand – immer als Spiel aufgefasst, das ihre Beziehung nicht ernsthaft gefährden könnte. In einem
der Telefongespräche damals sagte sie resigniert, er habe sie einfach gegen ein Mädchen eingetauscht, das den im
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geltenden Kategorien eher entsprochen hätte. Und
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