Vorn
feierten sich selbst. Tobias hätte Dennis in den vergangenen
Monaten sicher als seinen engsten Freund bezeichnet. Doch jetzt stand er mit ihm im Treppenhaus, und er hatte keine Ahnung,
wie er anfangen sollte. Schließlich begann Tobias einfach zu reden: »Du hast es ja mitgekriegt«, sagte er, »dass ich jetzt
mit keiner mehr zusammen bin, weder mit Emily noch mit Sarah. Ich bin eigentlich ganz gut damit zurechtgekommen in den letzten
Wochen. Aber vor ein paar Tagen, als ich mit Emily telefoniert habe, ist nach dem Auflegen irgendwas mit mir passiert. Ich
habe plötzlich eine Art Schock bekommen, und jetzt weiß ich gar nicht mehr, was mit mir los ist – wie ich zum
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stehe, was die Freundschaft zwischen uns genau bedeutet …« Tobias erzählte und merkte Dennis’ unvermindert lächelnden, aber
ein wenig starren Gesichtszügen an, dass die Worte nicht |193| zu ihm hindurchdrangen, dass eine solche Redeweise zwischen ihnen nicht vorgesehen war. Sie standen im Vorraum des Treppenhauses,
ein paar Meter neben dem Fahrstuhl, und als plötzlich die Kabine unten hielt und ein paar
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- Mitarbeiter ausstiegen, machte Tobias eine kurze Pause. Man begrüßte einander, Dennis ging Richtung Fahrstuhl, und beim Einsteigen
sagte er: »Weißt du, wir sind doch alles Amateure in solchen Fragen. Am besten ist es bestimmt, wenn du dir einfach professionelle
Hilfe suchst. Ein alter Freund von mir aus Frankfurt hat das auch mal gemacht. Es hat ihm super geholfen.« Wortlos fuhren
sie dann nach oben in die Redaktionsräume im dritten Stock. Dennis’ Kommentar erschien ihm auf einmal wie die endgültige Bestätigung,
dass er tatsächlich einen Fehler begangen hatte. Im Büro holte er nur schnell seinen Anorak und fuhr in Stefans Haus.
Tobias traute seiner Lebensgeschichte nicht mehr. Minutiös versuchte er in den schlaflosen Nächten, die Zeit mit Emily in
seinem Gedächtnis zu rekapitulieren, um den Moment der ersten Übertretung möglichst genau einzukreisen. Die ersten Jahre hatten
sich ihre Lebensumstände fast vollständig überschnitten; sie arbeiteten zusammen in dem Flüchtlingsheim, gingen auf Konzerte
und in Kneipen, verbrachten Zeit mit den Leuten von Undone. Wie sehr sehnte er sich jetzt zurück nach dem Glück, nach der
Geborgenheit dieser Jahre. In manchen Momenten half ihm zwar der Gedanke an die Monate nach seinem Studium weiter, weil er
sich noch gut in das Gefühl der Stagnation hineinversetzen konnte und den Schub spürte, den ihm die |194| Mitarbeit im
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gegeben hatte. Doch die kurze Ahnung, dass die Veränderungen in seinem Leben damals vielleicht doch folgerichtig gewesen waren,
verkehrte sich nach Sekunden wieder ins Gegenteil, und er verspürte Angst, so als wäre er durch diesen Schritt auf die schiefe
Bahn geraten. Wenn Tobias es überhaupt nicht mehr aushielt in den Wochen und Monaten darauf, unternahm er halbherzige Versuche,
in sein Leben vor dem Journalismus zurückzukehren; er stattete der Unterkunft einen Besuch ab und bot seinen alten Kollegen
an, einen Nachmittag in der Woche die Kinder zu betreuen, oder er forderte bei der Stadtverwaltung Bewerbungsunterlagen für
einen Posten als Fremdenführer in München an – alles Unternehmungen, die er dann am Tag danach sofort rückgängig machte, weil
er insgeheim wusste, dass das der falsche Weg war. Er begann auch wieder den Kontakt zu den Undone-Leuten zu suchen, empfand
seltsamerweise auch keinerlei Wut mehr auf Lars. Aber es erwies sich schnell, dass die Freundschaft zu allen außer Marius
nur über die Band funktioniert hatte, und die hatte ihre Aktivitäten seit einiger Zeit beinahe eingestellt. Dennoch war das
Klammern an das frühere Leben übermächtig. Tobias konnte es nicht verhindern, dass er die Zeit mit Emily als die einzig glückliche
verherrlichte, und als er in dieser Zeit zum ersten Mal einen Online-Zugang für sein Bankkonto bekam, gab er als Passwort
die besten Jahre mit ihr ein, 919293. Manchmal noch kehrte die Sehnsucht nach Sarah zurück, etwa als eine neue Praktikantin
im
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anfing, die ihr ein wenig ähnlich sah. Doch im Vergleich zu der Erschütterung, die der Verlust von Emily mit eigentümlicher
Verzögerung in ihm ausgelöst |195| hatte, war dieser Schmerz fast etwas Angenehmes, weil Tobias sich dann kurzzeitig als einheitliche Person fühlte, weil er
sich im Denken an Sarah bündelte (so wie er jetzt ohnehin sicher war, dass das Verlassenwerden leichter
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