Vorn
glaubte Tobias zu erkennen, dass er im Widerspruch gelebt hatte. Als er sich am ersten
Morgen nach dem Telefonat mit Emily an seinen Schreibtisch im
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setzte, konnte er |182| es etwa nicht mehr akzeptieren, dass, wie immer seit zwei Jahren, eine Volvic-Flasche neben dem Computer stand. Hatte er vor
seiner Zeit in der Redaktion nicht immer Wasser mit Kohlensäure getrunken? Tobias dachte daran, wie er bei seinen ersten Besuchen
im
Vorn
die eleganten blauen Volvic-Plastikflaschen, eine bis dahin unbekannte Wassersorte für ihn, auf den Schreibtischen von Carla
und Anne gesehen hatte; wie ihm diese Flaschen, edler und teurer als die gewöhnlichen Marken, als ein weiteres Zeichen für
die Souveränität und Stilsicherheit der Redakteure erschienen waren. Als er dann zum ersten Mal als Urlaubsvertretung aushalf,
kaufte er sich am Kiosk anfangs noch ein einfaches Mineralwasser mit Kohlensäure, doch schon am dritten oder vierten Tag stieg
er auch auf Volvic um. Die weißen Glasflaschen mit den Allerweltsetiketten kamen ihm plötzlich hässlich vor, das kohlensäurehaltige
Wasser wie etwas allzu Grobes, fast Plumpes, das nicht in diese Umgebung passte. Nun aber stellte die Flasche auf dem Schreibtisch
Tobias vor Probleme. War das wirklich er, der sich damals für Volvic entschieden hatte?
Das beiläufigste Gesprächsthema, der unscheinbarste Gegenstand konnte Tobias in große Unruhe versetzen. In den Tagen darauf
fuhr er gelegentlich in seine Wohnung, um noch ein paar weitere Sachen in Stefans Haus mitzunehmen und die Post durchzugehen.
In der Küche fiel sein Blick einmal auf das Regal mit den Milchkaffeeschalen. Dieses Bild war für ihn kaum auszuhalten. In
den sieben Jahren mit Emily hatten die bauchigen Schalen, die Stunden des gemeinsamen Milchkaffeetrinkens, |183| immer eine besondere Bedeutung für sie gehabt (und in der Form der Schalen, in der behutsamen Geste, mit der man sie in der
gewölbten Hand hielt, schien ihm jetzt das ganze Glück ihres Zusammenseins aufgehoben zu sein). Lange Zeit waren sie auch
der einzige Teil der Küchenausstattung, den er wirklich sorgsam behandelte. Teller, Gläser und Tassen hatte er nach dem Einzug
in die erste eigene Wohnung von seinen Eltern übernommen, und dieses Geschirr, in den unterschiedlichsten Formen und Mustern,
stapelte sich ungeordnet und ein wenig lieblos im Küchenregal. Nur die stetig anwachsende Kollektion von Milchkaffeeschalen
empfand er als Eigenes, als erste Bestandteile eines selbständigen Haushalts; die Schalen hatten einen besonderen Platz, und
beim Einräumen nach dem Abwasch war es ihm wichtig, dass sie sich in der Ordnung des Regals nicht mit den gewöhnlichen Müsli-
oder Salatschüsseln vermischten. Wenn Emily und Tobias in der ersten Zeit in Urlaub fuhren oder durch die Straßen der Münchner
Innenstadt gingen, hielten sie auch immer nach neuen Milchkaffeeschalen Ausschau. Auf diese Weise kam über die Jahre eine
Sammlung von fünfzehn oder zwanzig Tassen zusammen, und noch jetzt, beim Blick auf das Küchenbuffet seiner neuen Wohnung,
konnte er sich bei den meisten Schalen an die Umstände des Einkaufs erinnern: zwei hellblau-weiß gestreifte mit geriffelter
Oberfläche, wie sie häufig in alten französischen Filmen zu sehen sind; eine weinrote und eine schwarze mit weißer Innenseite,
entdeckt in einem Möbelladen, kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten; zwei weiß-grau gesprenkelte aus Paris; dann sogar
zwei bunte Schalen aus Los Angeles, handbemalt, aus einer |184| Bäckerei in der Main Street in Venice, die sie vor der Abreise mehrfach in Umschlagpapier einwickelten, damit sie den Flug
zurück nach Deutschland auch gut überstanden. Als Tobias sich damals die ersten Male mit Robert Veith traf, um in einem Café
in der Nähe des
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über den Mädchennamen-Artikel zu sprechen, stellte sich heraus, dass Milchkaffeeschalen für Robert eine besondere Zielscheibe
der Verachtung abgaben. »Schon bisschen peinlich, diese Schalen, findest du nicht auch?«, sagte er, als die Bedienung in dem
Café ein Tablett vorbeitrug. Und er setzte zu einem kurzen Vortrag darüber an, dass die Schalen für ein bestimmtes Milieu
stünden, für die studentischen Dauerfrühstücker, die nichts auf die Reihe kriegten, außer in Cafés zu sitzen und Pläne zu
schmieden. Kurze Zeit später holte Robert einmal Tobias von zu Hause ab, und als er ein paar gebrauchte Milchkaffeeschalen
in der Spüle
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